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Der letzte Vorhang

Der letzte Vorhang

Titel: Der letzte Vorhang
Autoren: Annette Meyers
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Kein Platz an der wunderschön auf alt getrimmten Bar — soweit sie das
durch die vielen Leute, die davorstanden, erkennen konnte. Alle Tische waren
mit Speisenden voll besetzt, eine Mischung aus Bankern und Leuten aus dem
Viertel. Der Lärm stieg zur verzinkten Decke auf und fiel auf die Gäste zurück.
Niemand schien sich daran zu stören.
    »Miss Wetzon? Miss Leslie Wetzon?«
    Sie drehte sich nach der Stimme um. Der Mann
hatte einen dicken roten Schopf, einen großzügigen Schnurrbart und Koteletten
bis fast zur Kinnlinie. »Der Lieutenant und seine Begleitung warten im
Hinterzimmer. Ich bin Casey. Möchten Sie Ihren Mantel abgeben?« Als sie den
Kopf schüttelte, sagte Casey: »Dann kommen Sie bitte mit.«
    Das Hinterzimmer war ebenfalls proppenvoll, doch
standen die Tische hier nicht so dicht beieinander. Wetzon fuhr sich mit den
Fingern durchs Haar, als sie ihr Spiegelbild flüchtig inmitten des in die
Glasfelder der Tür geätzten Jugendstil-Musters erblickte, während sie Casey
folgte.
    Ob Rita etwa...
    Sie blieb abrupt stehen. Silvestri saß an einem
Ecktisch, aber die Frau, mit der er redete und die Wetzon den Rücken zuwandte,
war zu jung, um Rita Silvestri zu sein. Wieder einmal geirrt, Wetzon, sagte sie
zu sich, während sie spürte, wie Verlegenheit ihre Wangen rötete. Wenn das
nicht Rita war, wer war es dann? Ein Hauch, nicht mehr als ein Hauch von
Ungewißheit traf sie.
    »Tag«, sagte sie und dachte sofort, daß ihre
Stimme zu laut und voll falscher Begeisterung klang. »Tut mir leid, daß ich zu
spät komme.« Sie ließ sich auf den Stuhl fallen, den Casey für sie
zurechtschob, und wand sich aus ihrem Mantel. Dann warf sie einen prüfenden
Blick auf ihre Konkurrentin, während Silvestri sie angrinste. Wenigstens meinte
sie, daß er grinste.
    »Les, das ist Nina Wayne. Nina, Leslie Wetzon.«
    Wetzon verließ der Mut. Nina Wayne war sehr
schön. Hohe Backenknochen, strahlender Teint, grüne Augen. Sie trug kein
Make-up, und ihr sandfarbenes Haar war zu einer eleganten Rolle frisiert, bei
der kein Härchen aus der Reihe tanzte. Wetzon haßte sie. Als sie sich die Hand
gaben, sah sie, daß Ninas Fingernägel stumpf, kurz und unlackiert waren und daß
sie keine Ringe trug.
    Nina begrüßte Wetzon mit einem festen Händedruck
und sagte: »Ich habe viel von Ihnen gehört.«
    »Ach wirklich?« Sie warf Silvestri einen
mißtrauischen Blick zu.
    »Bestellen wir doch«, bemerkte Silvestri, hinter
seiner Speisekarte versteckt.
    Sie bestellten Hamburger mit Speck und Pommes frites,
dazu Bier vom Faß. Um sie herum wogte das stetige Gesumme zwangloser Gespräche.
    Wetzon breitete umständlich ihre Serviette auf
dem Schoß aus, dann begann sie, an einer Salzstange zu knabbern.
    Während er die beiden Frauen betrachtete,
räusperte sich Silvestri. Er wirkte erleichtert, als das Bier, schäumend in
großen Glashumpen, gebracht wurde.
    »Wie ich gehört habe, sind Sie Tänzerin«, begann
Nina Wayne. Sie lächelte Wetzon herzlich an.
    »Ich war es. Das ist lange her.«
    »Und Sie waren am Broadway?«
    »Ja. Und auf Sommerfestivals und Tourneen.«
    »Sie tanzen nicht mehr? Wie geht es Ihren
Gelenken?«
    »Sehr gut, danke — wie geht es Ihren?«
    »Les...«, begann Silvestri.
    Nina Wayne lächelte.
    Wetzon sagte: »Ich belege Kurse und halte mich
an meiner Barre zu Hause beweglich. Sind Sie Physiotherapeutin?«
    »Ich bin Gerichtsanthropologin«, antwortete Nina
Wayne.
    Die Hamburger wurden aufgetischt, saftig auf
ovalen Platten, der Speck braun, die Pommes frites dick und knusprig. Nach
einem kurzen Augenblick der Würdigung wurde eine inoffizielle Auszeit
angenommen, während der sich das Interesse auf das Essen verlagerte.
    »Les plant ein Comeback«, sagte Silvestri
schließlich. Er hatte seine Platte leergegessen und angelte jetzt nach Wetzons
Pommes frites. Hatte Wetzon etwa Stolz in seinem Ton gehört? Nein. Nicht
möglich. Nicht bei Silvestri.
    »Wirklich?« fragte Nina.
    »Nein, nicht richtig. Ich trete in zwei
Vorstellungen eines konzertanten Revivals von Combinations auf, einem
Musical, bei dem ich vor einigen Jahren mitgewirkt habe. Es ist eine
Benefizveranstaltung zugunsten von Aidskranken, um drei Personen aus der
Originalbesetzung, die gestorben sind, zu ehren.«
    » Combinations «, entsann sich Nina. »Das
habe ich gesehen, als ich auf der High-School war.«
    Silvestri hustete hinter vorgehaltener Hand und
ignorierte Wetzons funkelnden Blick.
    »Dann haben Sie auch mich gesehen. Ich war bis
zur
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