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Der letzte Vorhang

Der letzte Vorhang

Titel: Der letzte Vorhang
Autoren: Annette Meyers
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Zunge, doch sie sagte
nichts, weil sie immer noch sehr behutsam miteinander umgingen. Keiner von
beiden wollte noch einmal verletzt werden.
    »Ciao, Carlos!« rief Silvestri; Carlos
antwortete genauso.
    »Ciao!« Ciao? Was war bloß in ihn gefahren,
dachte Wetzon, während sie Izz’ Leine am Halsband des kleinen Hundes festhakte.
»Sei jetzt ganz lieb, Isabella«, befahl sie, indem sie das rosa Schnäuzchen
küßte. Dann ging sie mit ihnen zum Aufzug.
    »Ach«, sagte Silvestri beiläufig, »hast du
morgen oder am Mittwoch zum Mittagessen Zeit?«
    »Morgen geht’s nicht. Smith hat mir gesagt, ich
soll morgen den ganzen Tag für eine Überraschung freihalten.« Wetzon stöhnte.
Sie hätte es fast vergessen. Bei Smith konnte man nie wissen, was sie sich
ausgedacht hatte.
    »Dann bleibt es bei Mittwoch?«
    »Abgemacht. Worum geht es?« Sie sah ihn
neugierig an, doch sein Gesicht verriet nichts. Er spielte den Lieutenant von
der New Yorker Polizei. »Du ißt doch mittags nie.«
    Der Aufzug kam, und die Türen gingen auf. Drei
Personen blickten ihnen erwartungsvoll entgegen.
    »Ich möchte, daß du jemand kennenlernst.« Er hob
Izz auf, ging hinein und sagte, während sich die Türen schlossen: »Ich rufe dich
an. Halt dir den Mittwoch frei.«
    Ihr Herz machte eine Pirouette, dann einen Salto
rückwärts. Seine Mutter! Endlich würde sie die sagenhafte Rita kennenlernen,
die in Forest Hill wohnt. Sie hatte ein Jurastudium absolviert, nachdem
Silvestris Vater, ein Polizist, getötet worden war, als er versuchte, einen
10-64, einen häuslichen Streit, zu beenden. Rita Silvestri hatte daraufhin ihre
Berufung in Rechtsfragen gefunden, die Frauen, und zwar besonders mißhandelte
Frauen betrafen.
    Wetzon ging in die Wohnung zurück und schloß die
Tür. »Ich ziehe nur diese Lumpen aus!« rief sie Carlos zu, warf ihre
Wall-Street-Haut ab und schlüpfte in Leggins, Sweatshirt und Socken, die sich
dick um die Knöchel ringelten. Dann ging sie auf die Barre in ihrem
kombinierten Eß- und Wohnzimmer zu.
    Bei der Renovierung ihrer Wohnung nach dem
Wassereinbruch vor zwei Jahren hatte sie die Zwischenwand herausnehmen, die
Balken in der vier Meter hohen Decke freilegen und die in Vorkriegshäusern in
Manhattan üblichen Bögen entfernen lassen. Ihre Freundin, die Bauunternehmerin
Loui (Louise) Armstrong, hatte Wetzons Barre fast an der gleichen Stelle
installiert, an der sie sich früher im nun aufgelösten Eßzimmer befunden hatte,
und dahinter eine Spiegelwand angebracht.
    Sie stellte sich vor die Barre und begann mit
einem Plié. Die Frau im Spiegel sah noch immer wie ein Mädchen aus, mit grauen
Augen, schmalem Gesicht und spitzem Kinn. Als Wetzon den Hals reckte, sah sie
keine Falten. Ihr aschblondes Haar hatte noch die gleiche Farbe, wenn sie auch
hier und da einen weißen Faden entdeckte. Es war wieder lang, berührte gerade
eben die Schultern, aber sie hatte es nicht wieder zum Ballerinenknoten oben
auf dem Kopf zusammengesteckt. Sie würde es aber tun, sagte sie sich.
Irgendwann.
    Die prickelnde Erregung, in die sie die
Verabredung mit Silvestri versetzt hatte, wurde jäh durch Vorsicht gedämpft.
Sie war nicht bereit — richtig. Sie war zu jung — falsch. In wenigen Monaten
würde sie vierzig. Plié, relevé. Auf ihrer Oberlippe erschienen
Schweißtröpfchen.
    »Häschen! Wir haben einen Berg Arbeit vor uns.«
Sie hatte Carlos nicht einmal gehört, aber er war da, saß an ihrem Eßtisch,
umgeben von Eßtellern und Stenoblöcken.
    Sie feixte ihn im Spiegel an und steppte lautlos
zum Tisch hinüber, wo sie sich anmutig auf einen Stuhl fallen ließ.
    Vor achtzehn Jahren hatten Wetzon und Carlos in
einem zeichensetzenden Musical mitgewirkt, über das die New York Times schrieb: »Ein kühles, doch bewundernswertes Musical über Beziehungen, das für
den Broadway sein wird, was Karussell seinerzeit bedeutete; ein
Ereignis, das die Hör- und Sehgewohnheiten des Musicalpublikums für immer
verändern kann.« Solches Lob konnte vernichten, und genau das tat es diesmal.
Wie es häufig geht, werden sogenannte »zeichensetzende« Musicals wie West
Side Story oder Company, um nur zwei zu nennen, nie so gut besucht
wie den Publikumsgeschmack bedienende Musicals der Art von Cats und Grease.
Combinations war kaum ein Jahr lang gelaufen und nie vor ausverkauftem
Haus. Es war die erste große Show gewesen, in der Wetzon und Carlos zusammen
aufgetreten waren.
    Über die Jahre waren die mit der ursprünglichen
Truppe von Combinations
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