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Der letzte Massai

Der letzte Massai

Titel: Der letzte Massai
Autoren: Frank Coates
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stehen, als sich Ole Sadera im Spiegel betrachtete – der auch aus irgendeinem königlichen Palast stammte.
    »Was halten Sie davon, Parsaloi?«, fragte er.
    Das Abbild in dem golden eingerahmten Spiegel trug einen Ausdruck von Ungläubigkeit. Dahinter strahlte ein stolzer Morrison.
    Der dunkelblaue Anzug aus zweiter Hand, den Morrisson ihm gegeben hatte, war an den Ärmelsäumen schon ein wenig ausgefranst und der Kragen des Hemdes eng und steif. Ole Sadera hatte Schwierigkeiten, den Kopf zu drehen, denn der rauhe, gestärkte Stoff kratzte an seinem Hals.
    »Es ist alles sehr eng«, sagte er schließlich.
    »Daran werden Sie sich gewöhnen. Das mussten wir alle. Und was ist mit den Schuhen?«
    Ole Sadera versuchte seine breiten, flachen Füße in das einengende Leder zu zwängen, doch dies gelang ihm nur bis zur Hälfte.
    »Nun ja …«, sagte Morrison und strich sich mit einem Finger über das Kinn. »Vielleicht finden wir in den verbleibenden zwei Tagen noch ein besseres Paar.«
    Zwei Tage. Die vertraute Leere in Ole Saderas Bauch kehrte zurück. Dies geschah jedes Mal, wenn er an die Seereise dachte.
Zwei Tage.
Er war erleichert und beunruhigt zugleich – erleichert, weil das Warten endlich ein Ende hatte, und beunruhigt, weil ihn die Aussicht auf die Reise in Furcht versetzte.
    Die letzten Tage waren wie im Flug vergangen. Morrison hatte ihm erklärt, wie er sich vor dem Kronrat zu verhalten hatte und was er von dem Anwalt erwarten durfte, der engagiert worden war, um sie zu vertreten.
    Aber damit war der Nachhilfeunterricht noch nicht beendet. Da es ihre begrenzten Mittel Morrison nicht erlaubten, mit ihm zu reisen, gab es auch noch die vielen Kleinigkeiten zu erlernen, wie er sich in London und auch an Bord des Schiffes zu verhalten hatte. Morrison nannte es
Etikette,
ganz so, als wäre damit alles erklärt. Selbst für das Essen und Trinken gab es Benimmregeln. Am Ende eines jeden Tages war Ole Saderas Kopf voll mit Dingen, die er für nutzlos hielt.
    »Ich weiß, dass es ein wenig eng ist an … nun ja, an manchen Stellen«, sagte Morrison, als Ole Sadera am Schritt seiner Hose zog. »Tragen Sie den Anzug doch einfach für eine Weile hier, während ich mich um einige geschäftliche Angelegenheiten kümmere.«
    Als Morrison die Tür des Lagerraumes hinter sich schloss, starrte sich Ole Sadera im Spiegel an. Er zog einen seiner Zöpfe unter dem Jackettkragen hervor und versuchte ein weiteres Mal, den gestärkten Hemdkragen zu lockern, doch es wollte ihm nicht gelingen.
    Er tat, was Morrison ihm geraten hatte, und wanderte im Raum umher, wobei er immer wieder einen Blick in die verschiedenen Spiegel warf. Er versuchte, sich vorzustellen, wie es sich in solch unbequemer Kleidung an Bord eines Schiffes anfühlen würde, während sich das Deck unter seinen Füßen hob und senkte und der Wind den Schaum von den Wellenkronen blies.
    Erst als er seine
Shuka
auf dem Bett liegen sah, begriff er, was für ein Irrsinn dies alles war. Er betrachtete erneut sein europäisches Spiegelbild. Was war nur aus ihm geworden? Warum war er in dieser fremden Stadt, kümmerte sich um Angelegenheiten, von denen er keine Ahnung hatte, und wurde von einem unsichtbaren Feind bedroht? Zu Hause in Ngatet brauchten ihn seine Leute. In Nairobi gab es eine Frau, die sich nach ihm sehnte. Warum war er nicht bei ihr?
    Er riss sich den beengenden Anzug und das würgende Hemd vom Leib und warf die Unterwäsche in eine Ecke.
    Nachdem er seine rote
Shuka
übergezogen hatte, betrachtete er sich erneut in dem Spiegel mit dem goldenen Rahmen, bevor er den Lagerraum verließ.
     
    Von den Rabai-Bergen aus betrachtet, war der Indische Ozean ein stiller blauer See – eine nichtssagende Fläche, die sich von der prächtigen tropischen Küste bis zum Himmel erstreckte. Ole Sadera hatte seine Schönheit niemals bestritten. Es war seine Nähe, die ihn dazu veranlasste, dem gewaltigen donnergrollenden Wasser zu misstrauen, das kein Mann zu besiegen vermochte, wenn er sich erst einmal in seinen Fängen befand.
    In der Ferne konnte er die Bahnstrecke erkennen, die den Bergzügen folgte, bevor sie wie ein Pfeil in Richtung der Taru-Wüste schoss. Jenseits davon, weit weg, lag Nairobi. Er könnte in zwei Tagen dort bei Kira sein. Und in zwei weiteren Tagen gemeinsam mit ihr in Massai-Land, wo er gebraucht wurde.
    Mit einem Mal überkam ihn eine große Erschöpfung, und er ließ sich auf die heiße, rote Erde sinken, stützte seine Ellbogen auf die Knie
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