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Auserkoren

Titel: Auserkoren
Autoren: PeP eBooks
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I
    »Wenn ich den Propheten umbringen würde«, sage ich und gebe mir gar nicht erst die Mühe, leise zu sprechen, »dann würde ich es in Afrika tun.«
    Ich blicke in Mariahs hellgrüne Augen.
    Sie erwidert meinen Blick und lächelt, als wüsste sie genau, wovon ich spreche, und als sei sie der gleichen Meinung wie ich.
    Ich bohre die Spitzen meiner Turnschuhe in den Wüstensand. Sogar so spät am Tag, die Sonne steht nur noch einen Spannbreit über dem Horizont, ist der Boden heiß von der Tageshitze. Ich fühle sie unter meinen Schuhsohlen. Ich fühle, wie die Hitze vom Boden aufsteigt und meine Beine hinauf unter mein knöchellanges Kleid kriecht. Nicht das leiseste Lüftchen weht.
    »Aber ich weiß nicht, wie ich ihn umbringen würde. Noch nicht.« Ich halte inne, damit Mariah auch merkt, dass es mir ernst ist, todernst. Dann hole ich tief Luft und rede entschlossen weiter. »Aber wenn er erst einmal tot ist, dann würde ich seinen Leichnam neben einen Termitenhügel legen. Nach drei Stunden wäre rein gar nichts mehr von ihm übrig. In Afrika gibt es Termiten, die können so etwas. Kein Mensch würde je erfahren, was geschehen ist.«

    Wieder mache ich eine Pause. Ich schaue in die untergehende Sonne, die die Wüste erst in Orange, dann in tiefes Rot taucht. Nicht ganz so rot wie Blut, aber fast. Über uns, im Osten, erscheint ein Stern nach dem anderen am Himmel. Es sind kleine Pünktchen, mehr nicht.
    Ich zucke die Achseln. » Nichts von ihm wäre mehr übrig. Rein gar nichts. Kein bisschen.«
    Mariah lächelt mich wieder an und lässt ein kurzes Glucksen hören. Ich setze sie von einer Hüfte auf die andere, dann beuge ich mich zu ihr, ich rieche Puder und den Geruch von Salbei, der aus der Wüste kommt. Ich berühre ihr Gesicht mit den Lippen, es ist so zart und glatt. Acht Monate alt ist dieses Baby jetzt, meine jüngste Schwester, und so süß wie frischer Rahm. Und genauso dick. Ich liebe sie.
    Oh ja. Ich liebe sie.
    »Als Erstes würde ich ihn für mich umbringen«, flüstere ich mit geschlossenen Augen an ihre Wange, die ich noch immer mit meinen Lippen berühre. »Und dann würde ich ihn für dich umbringen. Und dann für unsere anderen Schwestern. Und für unsere Mütter. Und für die anderen Frauen, die hier sind …«
    »Kyra.«
    Ich zucke zusammen.
    Die Stimme von Mutter Claire trägt weit über den Sand und die Steine und das Gestrüpp, die unsere Siedlung umgeben. Ihre Stimme klingt so deutlich, so klar und so nah, dass ich Angst habe, sie könnte auch meine gehört haben.

    »Kyra«, ruft Mutter Claire noch einmal. Sie steht auf der Veranda ihres Wohnwagens. Im Lichtschein, der nach draußen fällt, erkenne ich, dass sie die Hände in die Hüften gestemmt hat. »Ich sehe genau, dass du dort draußen bist. Komm rein. Du weißt, wir erwarten Besuch. Komm sofort her.«
    »Ich komme schon«, sage ich, aber gar nicht laut.
    Mutter Claire ist gemein. Sie ist Mariahs Mutter, die erste Frau meines Vaters. Meine richtige Mutter, Mutter Sarah, ist schwanger, sie fühlt sich nicht wohl und sie muss das Bett hüten. Sie könnte dieser Frau die Stirn bieten, zumindest wenn es mich betrifft. Das hat sie auch schon getan. Aber jetzt kann sie es nicht, weil es ihr nicht gut geht.
    Mariah fängt wieder zu glucksen an. In dem schummrigen Licht sehe ich, dass sie müde ist. Müde vom Wiegen und von der Hitze und vielleicht auch müde von meiner Stimme. Sie legt den Kopf an meine Schulter und gähnt herzhaft.
    »Du hast es gut«, sage ich. »Du kannst das alles heute Abend verschlafen.«
     
     
    Später helfe ich Mutter Sarah, die kleineren Mädchen für unsere Besucher zurechtzumachen, dann kümmere ich mich um sie selbst. Sie liegt auf dem Sofa, sie ist blass und ihr Bauch wölbt sich im sechsten Monat. Ich streiche über ihr langes blondes Haar. »Darf ich ein paar Minuten nach draußen gehen? Ich bin mit allem fertig.«
    Ich würde gerne Klavier spielen, Mozart wiederauferstehen
lassen, bis Prophet Childs kommt. Aber der Gemeindesaal ist jetzt geschlossen.
    Mutter blickt mich mit ihren Augen an, die so blau sind wie der Abendhimmel. »Was hast du vor, Kyra?«, fragt sie.
    Ich zucke die Schultern. »Ich möchte nur eine Minute alleine sein.«
    Mutter Sarah stützt sich auf den Ellbogen und legt den Kopf schräg, als würde sie lauschen. Ich höre, wie meine beiden jüngsten Schwestern mit ihren Puppen spielen. Laura, die nur um ein Jahr jünger ist als ich, sitzt am Esstisch und schreibt in ihr
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