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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten
Autoren: Katherine Pancol
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bleiben. Man kannte ihren Namen, aber kein einziges Foto von ihr war in der Presse erschienen. Manchmal, wenn sie ihren Namen nannte, Joséphine Cortès, C . O . R . T . È . S ., hob sich ein Gesicht und dankte ihr dafür, dass sie Die demütige Königin geschrieben hatte. Sie erlebte nur freundliche Reaktionen. Niemand hatte sie je mit einer Gabel bedroht.
    Die nächste Querstraße nach dem Ende der Avenue Paul Doumer war der Boulevard Émile Augier. Sie wohnte noch ein Stück weiter, hinter dem Jardin du Ranelagh. Beim Betreten des Parks bemerkte sie einen eleganten Mann in weißem Regenmantel, der am Ast eines Baumes Klimmzüge machte. Es war ein ulkiger Anblick, wie er sich in seinem eleganten Aufzug an einen Ast klammerte und sich wieder und wieder hochzog. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen: Er wandte ihr den Rücken zu.
    Das könnte der Anfang eines Romans sein. Ein Mann hängt an einem Ast. Es wäre dunkel, genau wie heute Abend. Er hätte seinen Regenmantel anbehalten und würde bei jedem Klimmzug mitzählen. Die Frauen, die sich beeilten, nach Hause zu kommen, würden sich nach ihm umdrehen. Wollte er sich erhängen, oder würde er sich gleich auf einen Passanten stürzen? Ein Verzweifelter oder ein Mörder? Damit würde die Geschichte einsetzen. Sie vertraute darauf, dass das Leben ihr Anregungen, Ideen, Details liefern würde, die sie in Geschichten verwandeln könnte. So hatte sie auch ihr erstes Buch geschrieben. Indem sie mit weit offenen Augen durch die Welt ging. Indem sie zuhörte, beobachtete, Witterung aufnahm. Und das ist gleichzeitig auch der beste Schutz gegen das Altern. Nur wer sich einschließt, wer sich weigert, zu sehen, zu hören oder zu atmen, der wird alt. Leben und Schreiben gehen oft Hand in Hand.
    Sie ging durch den Park. Es war eine mondlose, vollkommen finstere Nacht. Sie hatte das Gefühl, sich in einem feindseligen Wald verirrt zu haben. Der Regen legte einen Schleier über die Rücklichter der Autos, deren schwacher Schein den Park in einen unwirklichen Glanz tauchte. Ein abgebrochener Zweig, von einem Windstoß erfasst, streifte ihre Hand. Joséphine zuckte zusammen. Ihr Puls beschleunigte sich. Sie zog die Schultern hoch und ging schneller. In solchen Vierteln kann doch gar nichts passieren. Alle sitzen zu Hause um den Tisch und essen leckere, frische Gemüsesuppe oder sehen zusammen fern. Die Kinder haben gebadet und ihren Schlafanzug angezogen und schneiden ihr Fleisch, während die Eltern von ihrem Tag erzählen. Hier gibt es keinen aggressiven Irren, der durch die Gegend streift und nur darauf wartet, sein Messer zu zücken. Sie zwang sich, an etwas anderes zu denken.
    Es sah Luca gar nicht ähnlich, ihr nicht Bescheid zu sagen. Seinem Bruder musste etwas zugestoßen sein. Etwas Schlimmes, sonst hätte er nicht ihre Verabredung vergessen. »Ich muss mit Ihnen reden, Joséphine, es ist wichtig.« In diesem Moment saß er sicher gerade auf einem Polizeirevier und versuchte, Vittorio aus irgendwelchen Schwierigkeiten herauszuhelfen. Er ließ immer alles stehen und liegen, wenn er anrief. Vittorio weigerte sich, sie kennenzulernen, ich kann die Frau nicht ausstehen, sie nimmt dich völlig in Beschlag, außerdem hört sie sich total dusselig an. »Er ist eifersüchtig«, hatte Luca belustigt hinzugefügt. »Und Sie haben mich nicht verteidigt, als er behauptete, ich sei dusselig?« Er hatte gelächelt und geantwortet: »Ich bin das gewöhnt, ihm wäre es am liebsten, wenn ich nur ihn im Kopf hätte, früher war er nicht so, er wird immer labiler, immer reizbarer, deshalb möchte ich auch nicht, dass Sie ihm begegnen, er könnte sehr ausfallend werden, und dafür mag ich Sie zu sehr.« Sie hatte nur das Ende des Satzes im Gedächtnis behalten und eine Hand in seine Jackentasche geschoben.
    Meine liebste Mutter möchte also meine neue Wohnung sehen, weigert sich aber, es zuzugeben. Henriette Plissonnier rief niemals als Erste an. Man schuldete ihr Respekt und Loyalität. Der Abend, an dem ich ihr die Stirn geboten habe, war mein erster Abend in Freiheit, mein erster Schritt in die Unabhängigkeit. Hatte an jenem Abend alles angefangen? Die Große Kommandantin war vom Sockel gestürzt worden, und das war der Beginn von Henriette Grobzs Unglück gewesen. Inzwischen lebte sie allein in der geräumigen Wohnung, die Marcel Grobz, ihr Ehemann, ihr großzügig überlassen hatte. Er selbst war zu einer warmherzigeren Gefährtin geflohen, die ihm einen Sohn geschenkt hatte: Marcel Grobz
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