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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten
Autoren: Katherine Pancol
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eine Hand an die Stirn und betrachtete ihr Spiegelbild. Bleich. Verschwitzt. Mit verstörtem Blick. Sie berührte ihre Haare, tastete nach ihrem Hut. Sie hatte ihn verloren. Er musste zu Boden gefallen sein. Sie brach in Tränen aus. Sollte sie zurückgehen und ihn suchen, um jeden Hinweis auf ihre Identität zu beseitigen? Doch dazu fehlte ihr der Mut.
    Er hatte auf sie eingestochen. Mitten in die Brust. Mit einem Messer. Einer schmalen Klinge. Ich hätte sterben können. In einer Zeitschrift hatte sie gelesen, dass in Europa etwa vierzig Serienmörder auf freiem Fuß seien. Sie hatte sich gefragt, wie viele davon wohl in Frankreich lebten. Doch die obszönen Beschimpfungen, die er ihr an den Kopf geworfen hatte, deuteten eher darauf hin, dass er sich an jemandem rächen wollte. »Du machst dich nicht mehr wichtig, du miese Nutte, jetzt stopf ich dir endgültig das Maul, du blöde Fotze!« Die Worte hallten in ihrem Kopf wider. Er muss mich verwechselt haben. Davon musste sie sich unbedingt überzeugen, sonst würde ihr Leben unerträglich. Sonst würde sie allen Menschen misstrauen müssen. Sonst würde sie in ständiger Angst leben.
    Sie duschte, wusch sich die Haare, föhnte sie, zog ein T-Shirt und Jeans an, legte Make-up auf, um eventuelle Spuren zu verdecken, trug einen Hauch Lippenstift auf, musterte sich im Spiegel und zwang sich zu einem Lächeln. Es ist nichts passiert, Zoé darf nichts davon erfahren, sei fröhlich, tu so, als wäre alles in Ordnung. Sie würde mit niemandem darüber reden können. Wäre gezwungen, mit diesem Geheimnis zu leben. Oder sollte sie es Shirley sagen? Shirley kann ich alles sagen. Dieser Gedanke munterte sie ein wenig auf. Sie atmete geräuschvoll aus und blies damit die ganze Anspannung und Angst hinaus, die ihre Brust zusammenschnürte. Nimm Arnika gegen die blauen Flecken. Sie holte ein Röhrchen aus dem Arzneischrank, öffnete es, schüttete sich die passende Dosis unter die Zunge und ließ die Kügelchen schmelzen. Vielleicht sollte ich die Polizei informieren? Sie warnen, dass ein Mörder umgeht? Schon, aber … dann würde Zoé davon erfahren. Zoé darf nichts erfahren. Sie öffnete die Wartungsklappe der Badewanne und versteckte Antoines Paket dahinter.
    Dort würde niemand suchen.
    Im Wohnzimmer goss sie sich ein großes Glas Whisky ein und ging anschließend zu Zoé in den Keller.
    »Maman, das ist Paul …«
    Ein spindeldürrer Junge in Zoés Alter mit krausen blonden Locken und einem eng anliegenden schwarzen T-Shirt verbeugte sich vor Joséphine. Zoé lauerte auf den anerkennenden Blick ihrer Mutter.
    »Guten Tag, Paul. Wohnst du hier im Haus?«, fragte Joséphine mit tonloser Stimme.
    »Im dritten Stock. Ich heiße Merson. Paul Merson. Ich bin ein Jahr älter als Zoé.«
    Es schien ihm wichtig zu sein, darauf hinzuweisen, dass er älter war als dieses kleine Mädchen, das ihn bewundernd anschmachtete.
    »Und wie habt ihr beiden euch kennengelernt?«
    Sie bemühte sich, ganz normal zu reden.
    »Ich habe Geräusche im Keller gehört, es hat immer bumm-bumm gemacht, und da bin ich runtergegangen und habe Paul entdeckt, der hier Schlagzeug gespielt hat. Sieh nur, Maman, er hat seinen Keller zu einem Proberaum umgebaut.«
    Zoé forderte ihre Mutter auf, einen Blick in Pauls Keller zu werfen. Darin stand ein komplettes Schlagzeug, bestehend aus einer Bassdrum, einer Snare, drei Toms, einer Hi-Hat und zwei Becken. Ein schwarzer Schlagzeughocker vervollständigte das Ensemble, auf der Snare lagen Trommelstöcke. Auf einem Stuhl stapelten sich Partituren. Eine Glühbirne baumelte von der Decke und spendete ein zögerliches Licht.
    »Sehr schön«, bemerkte Joséphine. Sie musste sich beherrschen, um nicht zu niesen, denn der Staub kitzelte in ihrer Nase. »Sehr schönes Material. Richtig professionell.«
    Sie sagte einfach irgendwas. Sie hatte keine Ahnung von Schlagzeugen.
    »Kein Wunder. Das ist ein Tama Swingstar. Habe ich letztes Jahr zu Weihnachten bekommen, und dieses Jahr kriege ich noch ein ›Giant Beat‹ Ride-Becken von Paiste dazu.«
    Sie war beeindruckt von seinen präzisen Antworten.
    »Hast du den Keller gegen Schall isoliert?«
    »Klar … Blieb mir ja nichts anderes übrig, das macht ’nen ziemlichen Lärm, wenn ich spiele. Ich übe hier, oder ich fahre zu einem Kumpel, der hat ein Haus in Colombes. Da stören wir keinen, wenn wir spielen. Hier meckern die Leute immer gleich rum … Vor allem der Typ von nebenan.«
    Mit dem Kinn wies er in Richtung
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