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Der Kulturinfarkt

Der Kulturinfarkt

Titel: Der Kulturinfarkt
Autoren: Stephan Pius u Opitz Armin u Knuesel Dieter u Klein Haselbach
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Befriedigung die Zeit noch nicht gekommen ist.« 64 Aus dieser Feststellung leiten zahlreiche öffentliche Kulturbetriebe ab, in der mit öffentlichen Mitteln geförderten Kultur schlössen sich Besucherorientierung und künstlerische Qualität, Wirtschaftlichkeit und ästhetische Spitzenleistung gegenseitig aus. Die Autonomie der Kunst, so die traditionsreiche These, sei im Kern gefährdet, einer unheilvollen Kommerzialisierung werde automatisch Tür und Tor geöffnet, würden die Besucher und ihre Erwartungen in die künstlerischen Überlegungen mit einbezogen.
    64 Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Gesammelte Schriften, Band 1/2 Abhandlungen (Werkausgabe), Frankfurt a. M. 1980, S. 462.
    Eine tatsächliche Orientierung am Nutzer von Kultureinrichtungen wird im öffentlichen Kulturbetrieb aus tiefstem Herzen – trotz aller oberflächlichen Lippenbekenntnisse – abgelehnt. Behauptet wird ein Gegensatz zwischen künstlerischer Qualität und Publikumsgeschmack: Veranstaltungen, die ihr Publikum finden, können eigentlich gar nicht gut sein! Dabei wird geflissentlich übersehen, dass Erfolg im Kulturbetrieb nach Gerhard Schulze eine selbst konstruierte Größe ist nach dem Motto: Ist der Saal voll, spricht das für sich – ist er halb leer, dann ist das Publikum noch nicht reif für das ihm Gebotene. Diese Logik kann nie schiefgehen! In solchen Behauptungen steckt allerdings – man sollte sich dies durchaus einmal deutlich bewusst machen – ein gehöriges Stück Publikumsverachtung.
    Es ist ein vor allem von erfolglosen Kunstschaffenden gern verbreiteter und auf den Kulturförderebenen der öffentlichen Hände gern und oft nachgeplapperter Unfug, dass künstlerische Höchstleistung und Publikumsnachfrage einander ausschlössen. Keiner wusste das besser als Goethe, der am 1. Mai 1825 in einem Gespräch mit Eckermann feststellt: »Shakespeare und Molière … wollten auch vor allen Dingen mit ihren Theatern Geld verdienen. Damit sie aber diesen ihren Hauptzweck erreichten, mussten sie dahin trachten, dass fortwährend alles im besten Stande, und neben dem alten Guten immer von Zeit zu Zeit etwas tüchtiges Neues da sei, das reize und anlocke.« 65 Der Zusammenhang von Ökonomie, Besucherorientierung und künstlerischer Leistung stellte sich für Goethe ganz direkt her: »Will ein Theater nicht bloß zu seinen Kosten kommen, sondern obendrein noch Geld erübrigen und Geld verdienen, so muss eben alles durchaus ganz vortrefflich sein. Es muss die beste Leitung an der Spitze haben, die Schauspieler müssen durchweg zu den Besten gehören, und man muss fortwährend so gute Stücke geben, dass nie die Anziehungskraft ausgehe, welche dazugehört, um jeden Abend ein volles Haus zu machen. Das ist aber mit wenigen Worten sehr viel gesagt und fast das Unmögliche.«
    65 Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, Berlin o. J. [zuerst 1835], S. 154. Dort auch die nachstehenden Zitate.
    Und Goethe sah ebenfalls sehr hellsichtig die künstlerischen Gefahren, die aus einer Abkoppelung von der Nachfrage durch öffentliche Subventionen erwachsen: »Nichts«, sagte er, »ist für das Wohl eines Theaters gefährlicher, als wenn die Direktion so gestellt ist, dass eine größere oder geringere Einnahme der Kasse sie persönlich nicht weiter berührt und sie so in der sorglosen Gewissheit hinleben kann, dass dasjenige, was im Laufe des Jahres an der Einnahme der Theaterkasse gefehlt hat, am Ende desselben aus irgendeiner anderen Quelle ersetzt wird. Es liegt einmal in der menschlichen Natur, dass sie leicht erschlafft, wenn persönliche Vorteile oder Nachteile sie nicht nötigen.« Besucherorientierung und künstlerische Qualität sind für Goethe also nicht nur kein Gegensatz, sondern bedingen einander vielmehr – und umgekehrt! Als hätte er heutige Entwicklungen vorausgeahnt, beklagt er, dass »einige tausend Taler jährlich mehr oder weniger … doch keineswegs eine gleichgültige Sache [sind], besonders da die geringere Einnahme und das Schlechterwerden des Theaters natürlich Gefährten sind, und also nicht bloß das Geld verloren geht, sondern die Ehre zugleich«.
    Wenn heute im öffentlichen Kulturbetrieb vom »kulturpolitischen Auftrag« gesprochen wird, dann dreht sich der Diskurs meist nur um das Angebot und die Produzenten, die Organisationsseite. Das kann nicht so bleiben. Die Fragen werden immer lauter zu hören sein, weniger
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