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Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
Autoren: Oliver Plaschka , Matthias Mösch , Alexander Flory
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Kopf.
    „Wohin soll’s gehen?“, fragte der Kutscher erneut.
    Ich ließ mich auf den Rücksitz der Kutsche fallen. Es war gut, dass die Schwerkraft mich anzog.
    „Wohin nun?“, fragte der Kutscher zum dritten Mal.
    Ich seufzte und zog die Vorhänge der Kutschentür zu, um die Nacht draußen zu halten.
    „In den Guards’ Club.“

    Wenn ich gedacht hatte, London böte meinen Augen einen trostlosen Anblick, dann bewies dies nur, dass ich nicht auf die Beleidigung gefasst gewesen war, die Liverpool für sie bereithalten würde. Angeblich lief fast die Hälfte des Welthandels über Liverpool, aber wenn diese rußverschmierten Steinkolosse, durch deren Schluchten sich Heerscharen halbverhungerter Iren schoben, alles waren, was das „New York Europas“ zu bieten hatte, wurde es höchste Zeit, dass ich das echte New York kennenlernte.
    Wenigstens hatte ich ein feines Schiff, und ich war überrascht, ja höchst erfreut, als ich vernahm, dass ein alter Bekannter es gebaut hatte, der tüchtige Tunnelgräber Isambard Brunel. Wenn nur alle Engländer so ingeniös wären wie er, dachte ich, es ließe sich direkt mit Ihnen auskommen.
    Die SS Great Britain (welch klangvoller Name! Welch Einfallsreichtum!) war das erste Eisenschiff mit Propellerantrieb, das je gebaut worden war, und das größte Passagierschiff der Welt – wie mir sowohl das Röhren der Maschinen, das sich gerade zu einem infernalischen Toben steigerte, als auch das Gedränge überall an Deck um mich herum eindrucksvoll demonstrierten.
    „98 Meter Länge und eine Verdrängung von über 3000 Tonnen – britische Tonnen, Verehrteste – und sechs Kessel auf zwei Maschinen, beide mit einem Kolbenhub von 1,80 m und je 500 Pferdestärken. Das ist eine anständige Leistung! Angetrieben wird das Schiff von einem Propeller, 4,70 m im Durchmesser und 3.900 kg Gewicht.“
    „Ja, und den ganzen Segeln da“, ergänzte Sam.
    Ich seufzte. „Genau“, sagte ich, während wir unter dem Jubel und Winken der ahnungslosen Massen, die sich an der Mole versammelt hatten, ablegten und gemächlich Fahrt aufnahmen, „und diesen ganzen Segeln da oben.“
    Samantha – Sam für ihre Freunde – hatte nicht viel übrig für die technologischen Errungenschaften unserer Zeit; für die Vertreterin einer Agrarnation war dies aber nichts Ungewöhnliches. Ihre Familie, hatte sie mir fröhlich beim Einsteigen erzählt, kam aus der US-amerikanischen Provinz und machte in Rindern. Davon schien sie eine Menge zu verstehen.
    „Wie Sie wissen, liebe Freundin“, rief ich ihr nicht zum ersten Mal ins Gedächtnis, „bin ich Ingenieur. Sehen Sie es mir bitte nach, wenn ich dazu neige, mich in technischen Details zu verlieren.“
    Sie tat es ab, als habe ich tatsächlich einen Fehltritt begangen, über den Sie gönnerhaft hinwegsehen konnte. „Vergeben und vergessen, mein Bester. Sie sind auch Niederländer, sagten Sie?“
    Ich wusste zwar nicht, was das damit zu tun hatte, nickte aber, um nicht in ihrer Gunst zu sinken; ich gedachte, die zwei Wochen der Überfahrt nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. „Auf dem Weg vom alten ins neue Amsterdam, wenn Sie so wollen. Tatsächlich bin ich als Vertreter der alten Niederlande wie geschaffen dazu, die Flamme der Kultur nun über den Ozean zu tragen – denn weiß man, wie etwas zugrunde geht, dann weiß man auch, wie es entsteht. So bin ich, Ma ’ am: Immer auf der Wanderschaft, immer auf der Suche nach dem nächsten Tempel.“
    Sie blickte verwirrt, aber ich sah mich nicht bemüßigt, die verschiedenen Aspekte meines persönlichen Millenarismus mit ihr zu erörtern. Dass mein Entschluss, einem weiteren Kontinent den Rücken zu kehren, auch eher spontan aus der akuten Notwendigkeit zur Flucht geboren worden war, brauchte sie ebenso wenig zu wissen. Vielleicht musste ich auch erst einmal selbst herausfinden, was ich mit meiner unverhofft erlangten Freiheit zu tun gedachte. Auf keinen Fall wollte ich Trübsal blasen; daher auch der feine Gehrock, und eine frische Rasur hatte ich mir am Morgen ebenfalls gegönnt. Auch meine Nase versprach bald wieder ihre alte Form anzunehmen, auch wenn ich befürchtete, dass ein gewisser kecker Knick ihr erhalten bleiben würde.
    Fast fühlte ich mich wieder wie ein Mensch.
    „Wollen wir einen Abstecher in den Saloon wagen?“, schlug ich vor, denn es wurde frischer, je weiter wir uns aus dem Hafen entfernten, und es wurde Zeit für meine Medizin. Ich hatte die letzten Tage gemeint, eine leichte Form von
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