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Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
Autoren: Oliver Plaschka , Matthias Mösch , Alexander Flory
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die Frage, ob sie mir etwas bieten konnte, was mich vergessen ließ, dass sie im Grunde unter meinen Standards lag. Sie war zu alt, um noch unverdorben zu sein, und zu jung, um alles hinter sich zu lassen. Wie alt sie wohl unter ihrer Schminke und ihrer freizügigen Kleidung wirklich war – fünfundzwanzig, siebenundzwanzig? Welaan! Man wurde rasch anspruchslos, wenn man sich fern seiner gewohnten Umgebung bewegte, in der seit Kindesbeinen Gewissheit bestand, was gut, was mittelmäßig und was nicht zu ertragen ist, und dieser quälenden Ungewissheit über die qualitativen Stufen der Weiblichkeit in einem fremden Land entkam man nur, wenn man sich systematisch von der Spitze bis ganz nach unten vorarbeitete.
    Das Leidige war, dass ich eben nicht ganz bei der Spitze anfangen konnte, und dieser unschöne Umstand wiederum legte nahe, dass ich es ganz bleiben ließ. Wie interessant die Schöne für den Moment auch sein mochte; solange die Welt nach meinen Regeln lief ...
    Ein Klingeln in meinem Ohr riss mich aus den Gedanken. Ich schrak auf, obgleich ich wusste, dass nur ich dieses Geräusch zu hören vermochte, da es wortwörtlich in meinem Ohr war – genauer gesagt in der kleinen Apparatur, die ich dort trug. Zu meiner Schande fiel mir im Augenblick des Schrecks auf, dass der jungen Dame durchaus nicht entgangen war, wie ich sie beobachtet hatte. Leider blieb nun keine Zeit mehr für sie, denn das Klingeln bedeutete gewiss nichts Gutes. Ich stand auf. Dabei fiel mein Blick auf die verspiegelte Fläche der Seitenwand. Meine Stirn lag in Falten. Wie indiskret doch die eigene Physiognomie ist! Das Rufsignal ertönte nochmals. Um Fassung ringend verließ ich rasch die Loge. Deus ex machina. Das Stück näherte sich ohnehin dem Ende.

    Ich torkelte aus der Loge hinaus. Der Alarm war inzwischen zu einem unangenehmen Pfeifton angeschwollen, der es mir schwer machte, das Gleichgewicht zu halten. Ein Angestellter des Hauses kam mir entgegen, er trug ein Tablett und fragte etwas wie „Droschke, Sir?“, das aber genauso gut auch etwas anderes sein konnte.
    „Danke“, antwortete ich auf gut Glück. „Nur etwas frische Luft. Die ...“ Ja, was nur? In das überlaute Pfeifen, das mir den Schädel zu sprengen drohte, hatte sich ein Zischeln gemischt, das mich daran hinderte, meine gedankliche Suche nach einer Ausrede zu Ende zu führen. Die Heeren gewähren Audienz. Fertig für teleelektrischen Transfer in dreißig, neunundzwanzig ...
    „Aber ich habe um keine Audienz gebeten!“
    „Sir?“ Der Bedienstete schaute mich erschrocken an. Ich musste jetzt etwas zum Beißen haben, etwas, das ich mir zwischen die Zähne klemmen konnte, und einen abgeschiedenen Ort, wo ich mich hinlegen oder setzen konnte. Jetzt!
    „Austern, ich habe Austern gegessen, die waren ...“
    Der Diener erkannte meine Not, die ich ob des schmerzlichen Pfeifens wohl ziemlich glaubhaft vorgetragen hatte, und ließ mich gehen. Ich eilte rasch die Treppe zum Foyer hinab und – einundzwanzig – brauchte unbedingt etwas zum Beißen, ein Stück Leder oder Holz. Der Stoß, der mich in neunzehn, achtzehn ereilen würde, würde so unangenehm sein, dass ich mir vor Schmerz die Zunge abbeißen konnte. Ich rannte durch das leere Foyer auf eine Tür zu, von der ich annahm, sie führe zu einem Lagerraum, einer Küche, irgendwas, wo es ein Stück Holz geben könnte, oder Stoff, oder Papier, mit dem ich fünf, vier, Energie und teleelektrischer Transfer jetzt!

    Ich befand mich im Frachtraum eines Schiffes. Aus der Ferne drang das Pochen der Maschinen, so dumpf und schwer, als sei ich so weit im Inneren des eisernen Wals, dass ich nie mehr meinen Weg hinaus finden würde. Es war warm, die Luft vollgesogen vom Duft von Leder, Kautschuk und reifem Obst. Im Dunkel vor mir – der Frachtraum war nur durch eine Öllampe an der Wand hinter mir beleuchtet – befand sich ein doppeltes Halbrund aus langen Behältern. Siebzehn Lebensmittelkisten aus grobem Holz für den Überseetransport. In einem gewissen Sinn war es, als beträte man den Kolonialwarenladen der eigenen Kindheit, das Halblicht, die Gerüche, der Eintritt in das Exotische, wenn man mit dem Schritt über die Türschwelle die eigene Welt hinter sich lässt; nur dass man sich nicht in der Vorfreude auf ein Stück Lakritz voranbewegte, für das man sein Sonntagsgeld aufgespart hatte. Vor mir lag etwas gänzlich anderes.
    Ich hatte diesen Ort schon mehrfach gesehen – in meinem Träumen und einmal leibhaftig. Jede
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