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Der Krater

Titel: Der Krater
Autoren: Douglas Preston
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hatte.

6
    A bbey steuerte das Hummerfangboot auf den Steg zu, warf einen Fender über die Reling und legte sauber längsseits an.
Siehst du das, Dad?
, dachte sie.
Ich bin sehr wohl in der Lage, dein Boot zu steuern.
Ihr Vater war zu seinem alljährlichen Besuch bei seiner verwitweten älteren Schwester nach Kalifornien abgereist und würde eine Woche lang dort bleiben. Sie hatte ihm versprochen, sich um das Boot zu kümmern, danach zu sehen und jeden Tag die Bilge zu kontrollieren.
    Das hatte sie auch vor – auf dem Wasser.
    Sie erinnerte sich noch an die Sommer, als sie dreizehn, vierzehn gewesen war – damals hatte ihre Mutter noch gelebt. Morgens war sie mit ihrem Vater zum Hummerfang hinausgefahren. Sie hatte als sein »stern man« gearbeitet, die Fallen mit Köder versehen, die Hummer vermessen und sortiert und die zu kleinen wieder ins Meer geworfen. Es hatte sie gewurmt, dass er sie nie ans Steuer gelassen hatte – niemals. Und nachdem ihre Mutter gestorben war, seit sie zur Uni ging, hatte er einen neuen Helfer eingestellt und sich geweigert, sie wieder an Bord arbeiten zu lassen, wenn sie in den Ferien nach Hause kam. »Das wäre Jake gegenüber nicht fair«, hatte er gesagt. »Er verdient sich damit seinen Lebensunterhalt. Du gehst aufs College.«
    Sie schüttelte diese Gedanken ab. Das Meer, noch dunkel vor dem Morgengrauen, war so still wie ein Spiegel, und da heute Sonntag und damit das Fischen verboten war, waren keine Hummerfangboote unterwegs. Der Hafen war still, das Städtchen schwieg.
    Sie warf Jackie ein paar Leinen zu, und die befestigte das Boot an Pollern. Ihre Ausrüstung war schon auf dem Schwimmsteg angehäuft: eine riesige Kühlbox, eine kleine Gasflasche, ein paar Flaschen Jim Beam, zwei Seesäcke, Kartons voll Camping-Mahlzeiten, wetterfeste Kleidung, Schlafsäcke und Kissen. Zu zweit begannen sie die Sachen in der kleinen Kajüte zu verstauen. Während sie arbeiteten, ging die Sonne über dem Ozean auf und warf einen Goldglanz aufs Wasser.
    Als Abbey aus der Kajüte kam, hörte sie die Fehlzündung eines Autos und ein knirschendes Getriebe vom Kai über ihnen. Gleich darauf erschien eine Gestalt am Kopf der Rampe.
    »O nein, schau mal, wer da ist«, sagte Jackie.
    Randall Worth schlenderte die Rampe herab. Obwohl es nur zehn Grad warm war, trug er ein Tanktop, so dass man seine erbärmlichen Knast-Tattoos sehen konnte. »Nein, so was. Da sind ja Thelma und Louise.«
    Er war groß und sehnig mit fettigem, schulterlangem Haar, Schorf im Gesicht und Stoppeln am Kinn. Er trug ordinäre Motorradstiefel mit baumelnden Ketten daran, obwohl er noch nie im Leben auf einem richtigen Motorrad gesessen hatte. Er grinste und entblößte dabei zwei Reihen brauner, fauliger Zähne.
    Abbey belud weiter das Boot und ignorierte ihn. Sie kannte ihn fast schon ihr Leben lang und konnte immer noch nicht glauben, in welches Verderben der fröhliche, dumme, sommersprossige Junge – immer der schlechteste Spieler in der Baseballmannschaft, doch er hatte nie aufgegeben – sich selbst gestürzt hatte. Vielleicht lag es an dem fast unvermeidlichen Spitznamen, den sie von seinem Nachnamen abgeleitet und bei den Baseballspielen immer übers Feld gebrüllt hatten:
Worthless! Worthless!
    »Fährst du in Urlaub?«, fragte Worth sie.
    Abbey schwang einen Seesack aufs Seitendeck, und Jackie schob ihn in die Ecke der Steuerkabine.
    »Du hast mich nicht ein Mal besucht, seit ich aus dem Maine State raus bin. Das hat mich wirklich verletzt.«
    Abbey schwang den zweiten Seesack hoch. Sie waren fast fertig. Sie konnte es kaum erwarten, von Worth fortzukommen.
    »Ich rede mit dir.«
    »Jackie«, sagte Abbey, »fass mal mit an.«
    »Na klar.«
    Sie packten je einen Henkel der Kühlbox und wollten sie gerade über das Seitendeck wuchten, als Worth vor sie trat und ihnen den Weg versperrte. »Ich habe gesagt, ich
rede
mit dir.« Er ließ die Muskeln spielen, doch an seinem ausgezehrten Körper war die Wirkung lächerlich. Abbey stellte die schwere Kiste ab und starrte ihn an. Auf einmal stieg große Traurigkeit in ihr auf.
    »Oh, bin ich etwa im Weg?«, fragte Worth mit schmierigem Grinsen.
    Abbey verschränkte die Arme und wartete mit abgewandtem Gesicht.
    Worth trat direkt vor sie hin und beugte sich über sie, so dass sein Gesicht ihrem ganz nahe war und sein übler Körpergeruch sie einhüllte. Er verzog die rissigen Lippen zu einem schiefen Lächeln. »Hast du gedacht, du könntest so einfach Schluss machen?«
    »Ich
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