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Der Krankentröster (German Edition)

Der Krankentröster (German Edition)

Titel: Der Krankentröster (German Edition)
Autoren: Jürgen von der Lippe , Gaby Sonnenberg
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Regimegegner wurde er 1935 von den Nazis mit einem Unterrichtsverbot belegt. Wegen seiner unbeirrten Aktivitäten verbrachte er die Jahre 1942–45 im Konzentrationslager Dachau. Das alles habe ich viel später erfahren, denn die Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit war zu meiner Schulzeit noch nicht unbedingt angesagt und wurde am Kaiser-Karls-Gymnasium mehr oder weniger exklusiv betrieben von Studienrat Emonds, Deutsch und Geschichte, der uns auch z. B. auf Vertriebenentreffen mitschleppte und den Redner des Abends dann engagiert zur Brust nahm. Leider haben wir das damals nicht zu würdigen gewusst.
    Religiosität im Rheinland, und speziell in Aachen, ist etwas Besonderes. Mein Vater zählte etliche Geistliche zu seinen Stammgästen, der hochbetagte Pastor meiner späteren Pfarre soll laut Aussage meiner Mutter in der Antoniusstraße, oder »Antüen«, wie der Öcher seine Puffstraße zärtlich nennt, häufiger ein und aus gegangen sein, sicherlich um anderen hochbetagten Gästen die Sterbesakramente zu spenden, wenn der Kreislauf zusammenbrach. In diesem Zusammenhang muss ich auf die Heiligtumsfahrt zu sprechen kommen, die ursprünglich auf Karl den Großen zurückgeht, seit 1349 alle sieben Jahre stattfindet und zu der 1937 trotz der Störversuche der Nazis fast eine Million Pilger kamen; auch auf diese »Wallfahrt des stummen Protests« kann Aachen stolz sein. Die nächste Heiligtumsfahrt wird 2014 stattfinden, rund 100 000 Menschen werden wieder in die Stadt strömen, und die Antoniusstraße wird wieder Verstärkung aus Köln, Düsseldorf und Mönchengladbach anfordern. Woher ich das weiß? In der Quinta, der zweiten Klasse des Gymnasiums, wurden wir zu einer Verkehrszählung abkommandiert, d. h., wir standen an der Krefelder Straße und machten Striche, wenn ein Auto vorbeikam. Und das Erste, was die Aufsicht führenden Polizeibeamten uns zehn- und elfjährigen Dötzchen erzählten, war diese interessante Geschichte, die ich ja auch bis heute behalten habe. Sinnenfreude und rheinische Frömmigkeit sind in Aachen immer eine glückhafte Verbindung eingegangen. Am Rosenmontag zieht ein mehrere Kilometer langer Zug mit über hundert Festwagen und Fußgruppen durch die Innenstadt, u. a. durch die Theaterstraße, wo wir ja im ersten Stock wohnten, unsere Fenster also Logenplätze waren. Die wollte sich auch der Chef meines Vaters nicht entgehen lassen. Da er aber im Krieg beide Beine verloren hatte, schleppte ihn mein Vater auf dem Rücken nach oben, was ihm einen Hexenschuss einbrachte, der sich immer mal wieder meldete. Für mich als Adoleszenten bedeutete Karneval die Möglichkeit, eine andere Identität anzunehmen, in meinem Falle die des schwarz gekleideten Revolverhelden Lash La Rue, auch Lassie La Rock genannt, einer der vielen Partner von Fuzzy St. Jones, im Grunde der ersten Western-Sitcom. Und dieser harte Bursche, der ich drei Tage lang war, konnte natürlich fremde Frauen knutschen. Es war Aachener Roulette, wenn man so will. Ein Rudel Kinder fand sich, bildete einen Kreis, zwei oder drei Pärchen tanzten im Kreis, untergehakt in der Gegenrichtung, und der Kreis sang ein längeres Lied auf Öcher Platt, das folgendermaßen kulminierte: »Des Nachts um elfe, bau ooch um zwölfe, da kommt der letzte rote Ommelebus. Dann kommt der Meister mit seinem Kleister und jibt der Juja einen Kuss auf die Nuss!« Bei »Kuss« küsste man das fremde Mädchen, reihte sich wieder ein, wenn man zweimal dabei gewesen war, und wartete im Kreis darauf, wieder gewählt zu werden, oder man holte sich eine neue Partnerin in den Kreis und tanzte einem weiteren Kuss entgegen. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass ich diesen drei tollen Tagen jeweils ein ganzes Jahr entgegenfieberte. Aachen ist auch für seine Kirmes berühmt, den »Öcher Bend« auf dem Bendplatz in der Kühlwetterstraße. Es gibt ihn zweimal im Jahr, das Ereignis im Herbst ist das größere. In meiner zweiten Studentenbude, Adalbertsteinweg, Ecke Elsaßstraße, teilte ich das Außenklo mit Frau Vonderbank, alter Aachener Schaustelleradel. Die Kinder hatten alle große Fahrgeschäfte, die Mutter betrieb immer noch ein Kinderkarussell. Unser Deal: Sie putzte für mich Treppe und Klo, wenn meine Woche war, ich machte ihr die Steuer und erfuhr den neuesten Klatsch aus der Kirmesszene. Auf dem Bendplatz wurde auch einmal ein präparierter Wal gezeigt, eine Sensation, die uns einen unterrichtsfreien Vormittag bescherte.
    Zurück zum Karneval. Da gab es auch eine
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