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Der Kofferträger (German Edition)

Der Kofferträger (German Edition)

Titel: Der Kofferträger (German Edition)
Autoren: Gunter Tschauder
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dort oben bedeutete es, dass seine Hände und sogar die Arme mit einem starken Zug zwischen der groben Leine und der Fensterbank eingequetscht wurden. Er schrie entsetzlich auf. Gleichzeitig verlor er das Gleichgewicht, weil er sich ohnehin zu weit hinausgelehnt hatte. Mit einem grässlichen Schrei stürzte er von der Fensterbank in die Tiefe. Nur einen halben Meter von Jürgen schlug er mit einem dumpfen Wuff auf der Erde auf.
    Jürgen und Corinna nahmen sich nicht die Zeit, nach ihm zu schauen. Bald würde der Erste in der Außentür erscheinen. Er fasste sie bei der Hand.
    „Schnell.“
    Sie verschwanden hinter dem Platz in einem dichten Gebüsch, als sie hörten, wie sich die schwere Eichentür öffnete. Ihr Verfolger blieb zunächst bei dem Abgestürzten stehen, um ihn zu untersuchen. Jetzt machte sich für Corinna und Jürgen ihr Lauftraining an den Ufern des Golfes von Tarent bemerkbar. Sie hatten ihr Laufen nicht aufgegeben, auch nicht, als der Trieb und die Sucht nach der Happy Hour längst überwunden waren. In jedem Fall würden sie den gemütlichen Banditen überlegen sein.
    Sie rannten durch ein Gewirr subtropischer Hartlaubgehölze. Corinna wusste, der Lago di Pietra de Pertusillo war etwa zehn Kilometer entfernt. An ihm führte eine der Nationalstraßen entlang. Nicht das Laufen strengte an. Vielmehr das Stolpern über Steine und Baumwerk. Dennoch. Hier waren sie zu Hause, hier fühlten sie sich wohl. Bald merkten sie, dass niemand hinter ihnen her war. Sie hatt en die Verfolger abgeschüttelt.
    Zwischendurch legten sie eine Ruhepause ein, indem sie nicht liefen, nur schnell gingen. Das gab ihnen Luft zu einem Gespräch.
    „Du hast mir noch immer nicht gesagt, was du mit meinem Fummeln an der Wand angefangen hast?“, fragte sie.
    „Ach so. Das war zur Flächenberechnung eines Sechseckes mit gleicher Kantenlänge.“
    „Und was hast du damit bezweckt?“
    „Die Grundfläche unseres Gefängnisses zu berechnen.“
    „Und wozu?“, fragte sie neugierig.
    „Zu nichts.“
    „Aha“, schaute sie erstaunt. „Zu nichts. Und wozu dieses Nichts?“
    „Ich habe deine Hilfe benutzt, um dich zu beschäftigen. Ich denke, es ist mir gelungen. Du fingst an zu grübeln. Mit meiner Bitte hast du dich wieder mit deinem Verstand auseinandergesetzt. Dann bist du noch die Kantenlänge des Raumes abgeschritten. Das war nur dazu da, dich abzulenken.“
    „Du lässt mich in einer solchen Situation mit den Handflächen an den Wänden vorbei laufen, nur um mich zu beschäftigen?“
    „Genau das. Es war gut so.“
    „Danke“, erwiderte sie. „Es war gut so. Und warum?“
    „Corinna“, er nahm sie bei der Hand. „Erinnere dich. Ich hab es dir angesehen. Du warst nahe daran, durchzudrehen. Panik war dabei, dich zu überwältigen. Das Schlechteste in einer solchen Situation. Du wolltest schreien, du hättest durchgedreht. Das hätte uns nicht einen Schritt weitergebracht. Im Gegenteil, es hätte sehr viel Zeit gekostet, dich wieder zu beruhigen. So habe ich dir Arbeit gegeben. In dem Moment, als du mit konkreten Dingen und Gedanken beschäftigt warst, hattest du keine Zeit verrückt zu spielen.“
    Sie erinnerte sich an die Situation. So war es gewesen. „Danke“, sagte sie. Sie war sich vorgekommen wie in einem zu engen Kleid, das sie vergeblich versuchte, über den Kopf zu ziehen und das genau über den Ohren hängen blieb . Dabei ließ es ihr keine Luft zum Atmen.
    „Lass uns auf die jetzige Situation konzentrieren“, sagte er. „Wir sind noch nicht in Sicherheit.“
    „Was machen wir jetzt?“
    Er grinste und sie liefen einfach eine Weile weiter, ohne einen Ton zu sagen. Dem Sonnenstand entsprechend rannten sie nach Süden, der Straße zu.
    „Auf jeden Fall können wir nicht zu Fuß zum Gericht nach Berlin gehen. Aber es wird höchste Zeit, dort anzukommen“, drückte Jürgen seine momentanen Sorgen aus.
    Wären all diese Qualen vergeblich gewesen, wenn sie es jetzt nicht mehr rechtzeitig schaffen würden?

54 Katze aus dem Sack
     
     
     
    Die Spannung im Gerichtssaal war bis zum Siedepunkt gestiegen. Nach der Enttäuschung bei der ersten Namensnennung explodierte sie jetzt. Die Menschen konnten sich nicht mehr zurückhalten. Pressevertreter rannten hinaus. Die Meldungen jagten über den Ticker. Nachrichtensendungen wurden unterbrochen. Die Blätter brachten Sonderausgaben heraus. Mit einem Schlag schien das Leben in Deutschland stillzustehen. Man vernahm den Atem der Geschichte. Währenddessen
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