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Der Koch

Der Koch

Titel: Der Koch
Autoren: Martin Suter
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fernes Knistern durch die Vorhänge zu vernehmen. Es war, als hätte sich der Huwyler für diesen Abend gegen die Welt da draußen verpuppt.
     
    Die Welt da draußen bot auch keinen erfreulichen Anblick. Es war endlich an den Tag gekommen, dass die Finanzmärkte jahrelang mit Katzengold gehandelt hatten. Unsinkbare Banken sandten mit schwerer Schlagseite Notrufe aus. Jeden Tag gerieten mehr Wirtschaftssektoren in den Strudel der Finanzkrise. Automarken machten Kurzarbeit, Zulieferer Konkurs und Financiers Selbstmord. Überall stiegen die Arbeitslosenquoten, Staaten trieben auf den Bankrott zu, Deregulierer retteten sich in die Arme des Staates, Propheten des Neoliberalismus wurden kleinlaut, die globalisierte Welt erlebte den Anfang ihrer ersten globalisierten Krise.
    Und als könnte es auch diesen bevorstehenden Orkan in seiner Tauchglocke überleben, begann das kleine Alpenland, sich wieder abzukapseln. Kaum hatte es sich ein wenig geöffnet.
     
    Andrea musste warten, bis Bandini, der Annonceur, die Teller für Tisch fünf kontrolliert und mit der Bestellung verglichen hatte. Sie beobachtete Maravan, die angenehmste Erscheinung der Brigade.
    Er war ein für einen Tamilen großer Mann, bestimmt über eins achtzig. Scharfgeschnittene Nase, gestutzter Schnurrbart und blauschwarzer Bartschatten bereits am frühen Abend. Obwohl er die Nachmittagsschicht wie immer frisch rasiert angetreten hatte. Er trug die weiße Arbeitskleidung der Küchenhilfen mit der langen Schürze wie eine traditionelle hinduistische Kleidung. Das weiße Kochschiffchen aus Krepp sah auf seinem schwarzen, exakt gescheitelten Haar aus wie ein Gandhi-Topi.
    Jetzt stand Maravan an der Spüle, duschte mit einer Handbrause die Saucenreste von den Tellern und verstaute sie im Geschirrspüler. Er tat dies mit der Anmut eines Tempeltänzers. Als hätte er gespürt, dass sie ihn beobachtete, schaute er kurz auf und zeigte seine schneeweißen Zähne. Andrea lächelte zurück.
    Sie hatte im Laufe ihrer kurzen Karriere im Gastgewerbe immer wieder mit Tamilen zu tun gehabt. Viele waren Asylbewerber mit N-Bewilligungen, die ihnen gerade mal das Recht gaben, an einer genau bestimmten Stelle im Gastgewerbe zu einem Niedriglohn zu arbeiten. Und auch das nur auf Gesuch des Arbeitgebers, von dem er dann noch abhängiger war als jemand mit einer Aufenthaltsbewilligung. Mit den meisten kam sie gut aus, sie waren freundlich und unaufdringlich und erinnerten sie an die Reise, die sie als Rucksacktouristin durch Südindien gemacht hatte.
    Sie hatte Maravan, seit sie im Huwyler angefangen hatte, schon an allen Stationen arbeiten sehen. Er war virtuos im Zurüsten von Gemüse, wenn er Austern öffnete, sah es aus, als täten sie sich freiwillig für ihn auf, er filetierte mit wenigen geübten Handgriffen Seezungen grätenfrei und konnte Kaninchenkeulen so sorgfältig hohl auslösen, dass es aussah, als sei der Knochen noch drin.
    Andrea hatte ihm zugesehen, mit welcher Liebe, Präzision und Geschwindigkeit er auf den Tellern Kunstwerke gestaltete oder wie geschickt er marinierte Waldbeeren mit knusprigen Blätterteig-Arlettes zu dreilagigen Millefeuilles schichtete.
    Die Köche des Huwyler benutzten Maravan oft und gerne für Arbeiten, die eigentlich in ihren Bereich fielen. Aber Andrea hatte es noch nie erlebt, dass einer von ihnen ihm für deren Ausführung ein Kompliment gemacht hätte. Im Gegenteil: Kaum hatte er eines seiner Kunstwerke abgeliefert, wurde er wieder als Tellerwäscher und Handlanger eingesetzt.
    Bandini gab die Bestellung frei, die beiden Kellner setzten die Cloches über die Teller und trugen sie zum Tisch. Andrea konnte den nächsten Gang für Tisch eins abrufen.
     

2
    Es war weit nach Mitternacht, aber es fuhren noch Trams. Die Passagiere der Nummer zwölf waren müde Nachtarbeiter auf dem Nachhauseweg und aufgekratzte Nachtschwärmer in Partylaune. In der Gegend, in der Maravan wohnte, lebten nicht nur die meisten Asylbewerber, sondern befanden sich auch die angesagtesten Clubs, Discos und Lounges der Stadt.
    Maravan saß auf einem Einzelsitz hinter einem Mann mit speckigem Nacken, dessen Kopf immer wieder zur Seite kippte. Ein Berufskollege, den Küchendünsten nach zu schließen, die von ihm ausgingen. Maravan besaß eine empfindliche Nase und legte Wert darauf, auch wenn er von der Arbeit kam, nach nichts zu riechen. Die Kollegen benutzten Eau de Toilette oder Rasierwasser, um die Küchengerüche zu übertünchen. Er bewahrte die Kleider im
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