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Der Knochenjäger

Titel: Der Knochenjäger
Autoren: Jeffery Deaver
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zurück. Schau, da sind Blutflecken am Fenstersims. Kannst du sie sehen?«
    Das Falkenweibchen kam in Sicht. Blaugrau und schillernd wie ein Fisch. Es suchte den Himmel ab.
    »Sie sind immer zusammen. Ob sie sich wohl ein Leben lang treu bleiben?« fragte sich Thom laut. »Wie Gänse?«
    Rhyme wandte sich wieder Thom zu, sah dessen jugendlich schlanke Taille, als er sich vorbeugte und durch das schmutzige Fenster zum Nest blickte.
    »Wer war es?« wiederholte Rhyme. Der junge Mann hielt ihn hin, und das ärgerte Rhyme.
    »Ein Besucher.«
    »Ein Besucher? Ha«, schnaubte Rhyme. Er versuchte sich zu erinnern, wann er zum letztenmal Besuch bekommen hatte. Es mußte drei Monate her sein. Wer war es gewesen? Dieser Reporter vielleicht, oder irgendein entfernter Cousin. Nun ja, Peter Taylor, einer von Rhymes Rückenmarkspezialisten. Und Blaine war mehrmals dagewesen. Aber sie war selbstverständlich keine Besucherin.
    »Es ist eiskalt«, beschwerte sich Thom. Er wollte das Fenster öffnen. Auf der Stelle für Abhilfe sorgen. Die Jugend,
    »Mach das Fenster nicht auf«, befahl Rhyme. »Und sag mir endlich, wer da ist.«
    »Es ist eiskalt.«
    »Du störst den Vogel. Du kannst die Klimaanlage niedriger stellen. Ich stelle sie niedriger.«
    »Wir waren zuerst da«, sagte Thom und schob die riesige Fensterscheibe hoch. »Die Vögel haben sich hier niedergelassen, obwohl sie genau wußten, daß du da bist.« Mit funkelnden Augen blickten sie sich nach der Ursache dieses Lärms um. Andererseits funkelten sie immer mit den Augen. Trotzdem blieben sie auf dem Sims, von wo aus sie über ihr Reich herrschten, das aus kümmernden Gingko-Bäumen und auf beiden Seiten der Straße parkenden Autos bestand.
    »Wer ist es?« wiederholte Rhyme.
    »Lon Sellitto.«
    »Lon?«
    Was wollte der hier?
    Thom blickte sich prüfend um. »Hier sieht es scheußlich aus.«
    Rhyme konnte das Gewusel beim Putzen nicht leiden. Er konnte die Unruhe nicht leiden, den Staubsaugerlärm - den er besonders lästig fand. Er war zufrieden, wenn alles so blieb, wie es war. Dieses Zimmer, das er als sein Büro bezeichnete, befand sich im ersten Stock seines alten, mit allerlei Stuck und Schnörkeln verzierten Stadthauses an der Upper West Side und ging auf den Central Park hinaus. Das Zimmer war groß, rund vierzig Quadratmeter, und buchstäblich jeder Meter wurde genutzt. Manchmal schloß er spaßeshalber die Augen und versuchte den Geruch der verschiedenen Gegenstände im Raum festzustellen. Tausend Bücher und Zeitschriften, windschief übereinander getürmte Stapel von Fotokopien, die heißen Transistoren des Fernsehgeräts, die staubbedeckten Glühbirnen, die Korkpinnwände. Vinyl, Hyperoxid, Latex, Polster.
    Drei verschiedene Sorten Malt-Whisky.
    Falkenmist.
    »Ich will ihn nicht sehen. Sag ihm, ich bin beschäftigt.«
    »Und ein junger Polizist. Ernie Banks. Nein, das war ein Baseballspieler, stimmt's? Du solltest mich wirklich mal putzen lassen. Man merkt immer erst, wie schmutzig es ist, wenn einem jemand aufwartet.«
    »Aufwartet? Meine Güte, klingt das schrullig. Viktorianisch. Ich hab' auch was: Sag ihm, er soll sich zum Teufel scheren. Na, wie paßt das zum guten Ton der Jahrhundertwende?«
    Scheußlich...
    Thom sprach vom Zimmer, aber Rhyme vermutete, daß er auch seinen Boß meinte.
    Rhyme hatte dichtes schwarzes Haar, wie ein Zwanzigjähriger - obwohl er doppelt so alt war -, aber es stand wild und wuschelig ab und mußte dringend gewaschen und geschnitten werden. Sein Gesicht war von einem schwarzen, ungepflegt wirkenden Dreitagebart überwuchert, und beim Aufwachen hatte ihm ständig das Ohr gejuckt, was wiederum hieß, daß auch diese Haare gestutzt werden mußten. Rhymes Fuß- und Fingernägel waren zu lang, und er trug seit einer Woche dieselbe Kleidung - einen getupften, potthäßlichen Pyjama. Er hatte ein schmales Gesicht, dunkelbraune Augen und sah, wie Blaine ihm in leidenschaftlichen und auch anderen Momenten versichert hatte, ausgesprochen gut aus.
    »Sie möchten mit dir reden«, fuhr Thom fort. »Sie sagen, es sei sehr wichtig.«
    »Wie schön für sie.«
    »Du hast Lon seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen.«
    »Warum sollte ich ihn dann jetzt sehen wollen? Hast du den Vogel verscheucht? Wenn ja, werde ich stinksauer.«
    »Es ist wichtig, Lincoln.«
    »Sehr wichtig, hast du meines Wissens gesagt. Wo bleibt dieser Doktor? Vielleicht hat er angerufen. Ich bin vorhin weggedöst. Und du warst außer Haus.«
    «Du bist seit sechs Uhr
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