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Der Knochenjäger

Titel: Der Knochenjäger
Autoren: Jeffery Deaver
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lang herrschte Schweigen. Sellitto, groß, zerzaust, ein alter Hase mit über zwanzig Dienstjahren, warf einen Blick in einen Karton neben dem Bett und wollte etwas sagen. Als er die Papierwindeln für Erwachsene sah, verschlug es ihm die Sprache.
    »Ich habe Ihr Buch gelesen, Sir«, sagte Jerry Banks, Der junge Mann hatte, was das Rasieren anging, kein gutes Händchen - jede Menge Schnitte. Und was für eine reizende Haartolle! Guter Gott, der konnte kaum älter als zwölf sein. Je mehr die Welt verwittert, dachte Rhyme, desto jünger wirken anscheinend ihre Bewohner.
    »Welches?«
    »Na ja, Ihr Handbuch über Tatortarbeit natürlich. Aber ich habe das mit den Abbildungen gemeint. Das, was vor zwei Jahren rausgekommen ist.«
    »Da war auch Text drin. Genaugenommen sogar hauptsächlich Text. Haben Sie den gelesen?«
    »Oh, na ja, sicher«, sagte Banks rasch.
    Ein großer Stapel Restexemplare von Tatorte stand an einer Zimmerwand.
    »Ich habe nicht gewußt, daß Sie und Lon befreundet sind«, fügte Banks hinzu.
    »Ah, Lon hat also nicht das Jahrbuch gezückt? Ihnen die Bilder gezeigt? Die Ärmel hochgeschoben, auf seine Narben gedeutet und gesagt, diese Verletzungen habe ich erlitten, als ich mit Lincoln Rhyme zusammen war?«
    Sellitto lächelte nicht. Tja, wenn er es darauf anlegte, konnte er dafür sorgen, daß ihm das Grinsen gänzlich verging. Der ältere Detective wühlte in seinem Aktenkoffer. Was er da wohl drin hatte?
    »Wie lange wart ihr zusammengespannt?« fragte Banks, um Konversation bemüht.
    »Was für eine nette Formulierung!« sagte Rhyme. Und schaute auf die Uhr.
    »Wir waren kein Gespann«, sagte Sellitto. »Ich war bei der Mordkommission, er war Chef der IRD.«
    »Oh.« Banks war jetzt noch mehr beeindruckt. Die Leitung des Kriminaldezernats, der IRD, war einer der angesehensten Posten bei der New Yorker Polizei.
    »Jawohl«, sagte Rhyme und schaute aus dem Fenster, als könnte sein Arzt auf einem Falken einreiten, »Die zwei Musketiere.«
    »Sieben Jahre haben wir ab und an zusammengearbeitet«, sagte Sellitto geduldig, was Rhyme auf die Palme brachte.
    »Und schöne Jahre waren das«, tönte er.
    Entweder entging Sellitto der spöttische Unterton, oder aber er achtete nur nicht darauf. »Wir haben ein Problem, Lincoln«, sagte er. »Wir brauchen ein bißchen Hilfe.«
    Rums. Der Papierstapel landete auf dem Nachttisch.
    »Ein bißchen Hilfe?« Rhyme lachte laut auf, hauptsächlich durch die schmale Nase, die Blaine immer für das Werk eines phantasievollen Schönheitschirurgen gehalten hatte, was nicht stimmte. Sie war auch der Meinung gewesen, seine Lippen seien zu vollkommen (eine Narbe könnte nichts schaden, hatte sie einst im Scherz gesagt, und einmal hätte sie ihm im Streit fast eine zugefügt). Und warum, so fragte ersieh, habe ich heute ständig ihr verlockendes Bild vor Augen? Er hatte beim Aufwachen an seine Exgemahlin gedacht und sich prompt genötigt gefühlt, ihr einen Brief zu schreiben, der in diesem Moment am Bildschirm des Computers stand. Jetzt speicherte er das Dokument ab. Alle schwiegen, während er mit einem Finger die Befehle eingab.
    »Lincoln?« fragte Sellitto.
    »Ja, Sir. Ein bißchen Hilfe. Von mir. Ich hab's vernommen.«
    Banks lächelte nach wie vor, obwohl es keinerlei Anlaß dazu gab, und rutschte unbehaglich auf dem Stuhl hin und her.
    »Ich habe einen Termin. In, nun j a... jeden Moment«, sagte Rhyme.
    »Einen Termin.«
    »Einen Arzttermin.«
    »Wirklich?« fragte Banks, vermutlich um dem Schweigen zuvorzukommen, das erneut einzukehren drohte.
    Sellitto, der nicht recht wußte, in welche Richtung das Gespräch eigentlich lief, fragte: »Und wie ist es dir so ergangen?«
    Banks und Sellitto hatten sich bei ihrer Ankunft nicht nach seinem Befinden erkundigt. Diese Frage verkniffen sich die Leute für gewöhnlich, wenn sie Lincoln Rhyme sahen. Allzu verzwickt drohte die Antwort auszufallen, und unerfreulich war sie ganz sicherlich.
    »Mir geht's gut, danke«, sagte er nur. »Und was ist mit dir? Und Betty?«
    »Wir haben uns scheiden lassen«, sagte Sellitto rasch.
    »Wirklich?«
    »Sie hat das Haus gekriegt und ich ein halbes Kind.« Der bullige Polizist sagte es so gezwungen fröhlich, als hätte er den Spruch schon öfter gebracht, und Rhyme vermutete, daß hinter dieser Trennung eine schmerzliche Geschichte steckte. Eine Geschichte, die er nicht hören wollte. Dennoch war er nicht überrascht, daß die Ehe in die Brüche gegangen war. Sellitto war ein
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