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Der Keim des Verderbens

Der Keim des Verderbens

Titel: Der Keim des Verderbens
Autoren: Patricia Cornwell
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um dicke Medizinwälzer, die ich kürzlich gekauft und noch nicht ins Regal sortiert hatte, und setzte mich an meinen Schreibtisch. Mein Arbeitszimmer war in meinem Haus der Raum, in dem ich mich am häufigsten aufhielt. Ich hatte einen Kamin einbauen lassen und große Fenster, aus denen man einen Blick auf eine steinige Biegung des James River hatte.
    Ich loggte mich bei America Online, kurz AOL, ein und wurde von einer synthetischen männlichen Stimme begrüßt, die verkündete, ich hätte Post. Ich hatte E-Mails über verschiedene Fälle, Verhandlungen, Fachtagungen und Zeitschriftenartikel erhalten und eine Nachricht von jemandem, den ich nicht kannte. Sein Benutzername lautete deadoc. Sogleich wurde mir mulmig. Es gab keine Beschreibung dessen, was diese Person mir geschickt hatte, und als ich die Nachricht öffnete, las ich nur: zehn.
    Die E-Mail hatte einen Anhang - eine Grafikdatei, die ich herunterlud und entpackte. Ein Farbbild begann sich auf meinem Bildschirm zu materialisieren, indem es sich Pixelzeile für Pixelzeile aufbaute. Langsam wurde mir klar, daß ich das Foto einer hellgrauen Wand und einer Tischkante mit einer blaßblauen Decke vor mir hatte, auf der Flecken und Lachen einer dunkelroten Flüssigkeit zu erkennen waren.
    Dann erschien eine klaffende rote Wunde auf dem Monitor und schließlich etwas Hautfarbenes, das in blutige Stümpfe und Brustwarzen mündete.
    Als das entsetzliche Bild komplett war, starrte ich ungläubig auf den Bildschirm und griff dann zum Telefon.
    »Marino, ich glaube, Sie sollten besser herkommen«, sagte ich mit angsterfüllter Stimme.
    »Was ist passiert?« fragte er alarmiert.
    »Hier ist etwas, das Sie sich ansehen müssen.«
    »Alles klar mit Ihnen?«
    »Ich weiß nicht recht.«
    »Rühren Sie sich nicht von der Stelle, Doc«, sagte er resolut.
    »Bin schon unterwegs.«
    Ich druckte die Datei aus und sicherte sie auf Diskette, aus Angst, sie könnte sich irgendwie vor meinen Augen in Luft auflösen. Während ich auf Marino wartete, dimmte ich das Licht in meinem Büro, um Einzelheiten und Farben besser erkennen zu können. Ich starrte auf das grausam verstümmelte Etwas, und meine Gedanken drehten sich im Kreis. Das Bild war entsetzlich, aber ein solcher Anblick war eigentlich keine Seltenheit für mich. Ärztekollegen, Wissenschaftler, Juristen und Polizeibeamte schickten mir oft solche Fotos übers Internet. Regelmäßig wurde ich per E-Mail gebeten, Tatorte, Organe, Wunden, Schaubilder, sogar animierte Rekonstruktionen von Fällen, die demnächst vor Gericht kommen sollten, zu untersuchen.
    Das Foto hätte ohne weiteres von einem Detective oder einem Kollegen stammen können. Es hätte von einem Staatsanwalt oder der CASKU kommen können. Aber etwas daran war faul. Bisher hatten wir in diesem Fall noch keinen Tatort, nur eine Deponie, auf der das Opfer abgeladen worden war, den Müll aus der unmittelbaren Umgebung der Leiche und den zerfetzten Beutel. Nur der Mörder oder jemand anders, der etwas mit der Tat zu tun hatte, konnte mir diese Datei geschickt haben.
    Eine Viertelstunde später, kurz vor Mitternacht, klingelte es an meiner Tür. Ich schoss von meinem Stuhl hoch und lief den Flur hinunter, um Marino hereinzulassen.
    »Was zum Teufel ist denn los?« fragte er sofort. Er trug ein verschwitztes graues Polizei-T-Shirt, das sich eng um seinen massigen Körper und seinen dicken Bauch spannte, weite Shorts, Sportschuhe und Socken, die er bis zu den Waden hochgezogen hatte. Ich roch abgestandenen Schweiß und Zigaretten.
    »Kommen Sie«, sagte ich.
    Er folgte mir den Flur entlang in mein Arbeitszimmer, und als er das Bild auf meinem Monitor sah, setzte er sich auf meinen Stuhl und runzelte finster die Stirn.
    »Ach du Scheiße. Ist es das, wofür ich es halte?« fragte er.
    »Sieht aus, als sei das Foto an dem Ort entstanden, wo die Leiche zerstückelt wurde.« Ich war es nicht gewohnt, in meinem privaten Arbeitszimmer Besuch zu haben, und ich merkte, wie ich deswegen unruhig wurde.
    »Also ist das die Leiche, die Sie heute gefunden haben.«
    »Ja, das Foto ist zwar bereits kurz nach Eintritt des Todes entstanden«, sagte ich, »aber es ist der Rumpf von der Müllhalde.«
    »Wie können Sie da so sicher sein?« fragte Marino. Während seine Augen gebannt am Bildschirm hingen, verstellte er meinen Stuhl. Dann schob er mit seinen großen Füßen auf dem Fußboden Bücher aus dem Weg, um bequemer sitzen zu können. Als er ein paar Akten nahm und sie ans andere
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