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Der Keim des Verderbens

Der Keim des Verderbens

Titel: Der Keim des Verderbens
Autoren: Patricia Cornwell
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intelligent. Ich glaube nicht, daß man jemals aufhört, jemanden wie ihn zu vermissen.«
    Wesley hatte einen weißen Wollpullover und eine cremefarbene Baumwollhose an, und im Feuerschein sah es beinahe so aus, als leuchtete er von innen.
    »Wenn du heute abend rausgehst, wirst du unsichtbar«, sagte ich.
    Fragend runzelte er die Stirn.
    »So wie du angezogen bist, bei dem Schnee. Wenn du in einen Graben fällst, wird dich bis zum Frühjahr niemand finden. In einer Nacht wie heute solltest du etwas Dunkles tragen. Du weißt schon, als Kontrast.«
    »Kay. Wie wär's mit einem Kaffee.«
    »Das ist genau wie mit den Leuten, die für den Winter ein Fahrzeug mit Allradantrieb wollen. Sie kaufen eins in Weiß. Wozu soll denn das gut sein, wenn man eine weiße Straße unter einem weißen Himmel entlangschliddert, und überall wirbelt weißes Zeug herum.«
    »Was redest du da eigentlich?« Er sah mich an.
    »Keine Ahnung.«
    Ich hob die Champagnerflasche aus ihrem Kübel.
    Wasser tropfte herab, als ich unsere Gläser nachfüllte. Ich war ihm etwa zwei zu eins voraus. Im CD-Player steckten die Hits der Siebziger, und gerade brachten Three Dog Night die in die Wände eingelassenen Boxen zum Vibrieren. Es war eines der seltenen Male, wo die Möglichkeit bestand, daß ich mich betrank. Ich konnte nicht aufhören, daran zu denken, nicht aufhören, es vor mir zu sehen. Ich hatte es nicht gewußt, bis ich in jenem Raum mit den aus der Decke hängenden Kabeln stand und sah, wo die blutverschmierten Hände und Füße gelegen hatten. Erst da hatte mich die Erkenntnis durchzuckt. Das konnte ich mir einfach nicht verzeihen.
    »Benton«, sagte ich leise, »ich hätte wissen müssen, daß sie es war. Ich hätte es wissen müssen, bevor ich zu ihr gefahren bin und in ihr Haus gegangen bin und die Fotos und das Zimmer gesehen habe. Ich meine, irgendwo im Hinterkopf muß ich es gewußt haben, aber ich habe nicht darauf gehört.«
    Er antwortete nicht, und ich faßte das als weitere Anklage auf.
    »Ich hätte wissen müssen, daß sie es war«, murmelte ich wieder. »Dann wären die Menschen vielleicht nicht gestorben.«
    »Das sagt sich hinterher immer leicht.« Sein Tonfall war sanft, aber fest. »Die Leute, die bei den Gacys, den Bundys, den Dahmers dieser Welt nebenan wohnen, sind immer die letzten, die es merken, Kay.«
    »Und sie wissen nicht, was ich weiß, Benton.« Ich nippte an meinem Champagner. »Sie hat Wingo auf dem Gewissen.«
    »Du hast dein Bestes getan«, gab er zu bedenken.
    »Er fehlt mir«, seufzte ich traurig. »Ich war noch nicht mal an seinem Grab.«
    »Warum gehen wir nicht zu Kaffee über?« fragte Wesley wieder.
    »Darf ich mich nicht auch mal etwas gehen lassen?« Ich wollte zu gern der Realität entfliehen.
    Er begann mir den Nacken zu massieren, und ich schloß die Augen.
    »Muß ich denn immer vernünftig sein?« murmelte ich. »Hier präzise, dort exakt. Anzeichen von und Indiz für. Worte, kalt und scharf wie die Stahlklingen, die ich benutze. Und was werden sie mir vor Gericht nützen? Wenn es um Lucy geht? Um ihre Karriere, ihr Leben? Alles wegen Ring, diesem Scheißkerl. Ich, die Sachverständige. Die liebende Tante.«
    Eine Träne rollte über meine Wange. »O Gott, Benton. Ich bin so müde.«
    Er kam zu mir herüber, legte seine Arme um mich und zog mich in seinen Schoß, damit ich meinen Kopf anlehnen konnte.
    »Ich komme mit dir«, sagte er leise in mein Haar.
    Am 18. Februar, dem Jahrestag eines Bombenanschlags, der eine Mülltonne zerfetzt und einen U-Bahn-Eingang, eine Kneipe und ein Cafe zum Einsturz gebracht hatte, nahmen wir in London ein Taxi zur Victoria Station. Trümmer waren durch die Luft geflogen, und die Glassplitter, die vom Dach geregnet waren, hatten sich in Schrapnelle und Geschosse von entsetzlicher Durchschlagskraft verwandelt. Die IRA hatte es nicht auf Mark abgesehen. Sein Tod hatte nichts damit zu tun, daß er beim FBI war. Er war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, wie so viele Menschen, die zu Opfern werden.
    Die Station war voll von Pendlern, die mich fast umrannten, als wir uns den Weg zur Bahnhofshalle bahnten, wo die Railtrack-Fahrkartenverkäufer hinter ihren Schaltern alle Hände voll zu tun hatten und an der Wand die Züge und Abfahrtszeiten angezeigt wurden. An Kiosken wurden Süßigkeiten und Blumen verkauft, und man konnte Paßfotos machen oder Geld wechseln. Mülltonnen gab es nur bei McDonald's und an ähnlichen Örtlichkeiten. Draußen sah ich keine
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