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Der Keim des Verderbens

Der Keim des Verderbens

Titel: Der Keim des Verderbens
Autoren: Patricia Cornwell
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laufenden«, sagte er. »Sie haben doch Ihren Pieper an, oder?«
    »Ja.«
    Um diese Tageszeit waren nicht viele Autos unterwegs, und ich stellte den Tempomat auf neunundsechzig Meilen pro Stunde, um keinen Strafzettel zu bekommen. Nach einer knappen Stunde passierte ich Williamsburg, und etwa zwanzig Minuten später folgte ich der Wegbeschreibung, die Crowder mir zu ihrer Adresse in Newport News gegeben hatte. Das Viertel hieß Brandon Heights. Hier wohnten Menschen aus unterschiedlichen wirtschaftlichen Verhältnissen, doch je näher man dem James River kam, desto größer wurden die Häuser. Sie wohnte in einem bescheidenen zweistöckigen Gebäude mit einem gepflegten Garten, das erst kürzlich eierschalenfarben gestrichen worden war. Ich parkte hinter einem Van, hängte mir meine Handtasche und den Aktenkoffer über die Schulter und holte den Eintopf aus dem Wagen. Phyllis Crowder kam an die Tür. Sie sah furchtbar aus. Ihr Gesicht war blaß, und in ihren Augen brannte das Fieber. Sie trug einen Flanell-Morgenmantel und Lederslipper, die aussahen, als hätten sie früher mal einem Mann gehört.
    »Das ist wirklich unglaublich nett von Ihnen«, sagte sie, als sie die Tür öffnete. »Entweder das, oder Sie sind verrückt.«
    »Kommt drauf an, wen Sie fragen.«
    Ich trat ein und blieb stehen, um mir die gerahmten Fotos anzusehen, die den dunkel getäfelten Hausflur säumten. Die meisten zeigten Menschen beim Wandern oder Angeln und waren bereits vor langer Zeit aufgenommen worden. Wie gebannt blieb mein Blick an einem alten Mann hängen, der eine blaßblaue Mütze trug, eine Katze auf dem Arm hatte und mit einer Maiskolbenpfeife zwischen den Zähnen in die Kamera grinste.
    »Mein Vater«, sagte Crowder. »Meine Eltern haben hier gewohnt, und davor die Eltern meiner Mutter. Das da sind sie.«
    Sie zeigte auf ein Foto. »Als das Geschäft meines Vaters in England den Bach runterging, kamen sie her und zogen bei ihnen ein.«
    »Und was geschah mit Ihnen?« fragte ich.
    »Ich blieb da. Ich ging schließlich noch zur Uni.«
    Ich sah sie an. Für so alt, wie sie mir gegenüber immer tat, hielt ich sie nicht.
    »Sie versuchen immer, mir weiszumachen, Sie wären im Vergleich zu mir ein Dinosaurier«, sagte ich. »Aber irgendwie glaube ich das nicht.«
    »Vielleicht haben Sie sich einfach besser gehalten als ich.«
    Ihre fieberdunklen Augen trafen meine.
    »Lebt noch jemand von Ihrer Familie?« fragte ich und fuhr fort, mir die Fotos anzusehen.
    »Meine Großeltern sind seit etwa zehn Jahren tot, mein Vater seit ungefähr fünf. Danach bin ich jedes Wochenende hergefahren, um mich um Mutter zu kümmern. Sie hat sich so lange ans Leben geklammert, wie es irgend ging.«
    »Das ist Ihnen bei Ihrem anstrengenden Beruf bestimmt nicht leichtgefallen«, sagte ich, während ich ein frühes Foto von ihr betrachtete, auf dem sie in einem Boot saß und lachend eine Regenbogenforelle hochhielt.
    »Möchten Sie nicht hereinkommen und sich setzen?« fragte sie. »Geben Sie her, ich bringe das in die Küche.«
    »Nein, zeigen Sie mir, wo's langgeht, und schonen Sie Ihre Kräfte«, insistierte ich.
    Sie führte mich durch ein Eßzimmer, das offenbar seit Jahren nicht mehr benutzt worden war. Der Kronleuchter fehlte, Kabel hingen über einem verstaubten Tisch von der Decke, und die Vorhänge waren durch Rolläden ersetzt worden. Auf dem Weg in die große, altmodische Küche stellten sich mir die Kopf- und Nackenhaare auf, und ich hatte Mühe, ruhig zu bleiben, als ich den Eintopf auf die Arbeitsplatte stellte.
    »Tee?« fragte sie.
    Inzwischen hustete sie kaum noch, und auch wenn sie krank war, war das nicht der eigentliche Grund, weshalb sie ihrem Arbeitsplatz fernblieb.
    »Ich möchte nichts«, sagte ich.
    Sie lächelte mich an, aber gleichzeitig durchbohrte mich ihr Blick, und als wir uns an den Frühstückstisch setzten, überlegte ich verzweifelt, was ich tun sollte. Es war undenkbar, daß mein Verdacht sich bewahrheiten könnte.
    Oder hätte ich schon früher darauf kommen müssen? Seit über fünfzehn Jahren hatten wir ein freundschaftliches Verhältnis. Wir hatten zusammen zahlreiche Fälle bearbeitet, Informationen ausgetauscht und weibliche Solidarität geübt. Früher hatten wir oft zusammen Kaffee getrunken und eine Zigarette geraucht. Ich hatte sie immer charmant und intelligent gefunden. Jedenfalls war mir nie eine dunkle Seite an ihr aufgefallen. Aber andererseits wußte ich, daß man sich ganz ähnliche Dinge über den
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