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Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum

Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum

Titel: Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
Autoren: Oliver Bottini
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dachte sie, über eine Pfütze springend: trg . Es sah so unsympathisch aus, doch wenn man es dann hörte, mit einem kurzen, dunklen »I« vor dem gerollten »R«, klang es geheimnisvoll und schön.
    Die Sprache war ein weiterer Grund, weshalb sie sich in Zagreb wohlfühlte. So schwierig Grammatik und Aussprache waren, das Lernen ging ihr leicht von der Hand. Sechs Fälle? Kannte man doch vom Lateinischen. Dreißig Buchstaben? Die Welt der Dinge war nun mal komplex. Eine ganze Handvoll unterschiedliche Zischlaute? Der Mund freute sich.
    Inzwischen war ihr die korrekte Aussprache von Č, Ć, DŽ, Š und Ž in Fleisch und Blut übergegangen. Tsch üss Brö tch en, im J eep sch meckt’s J ournalisten nicht.
    Sie löste eine Fahrkarte, stieg in die Standseilbahn. Feuchte Leiber drängten sich gegen sie, Kinder malten Fingersonnen an die beschlagenen Scheiben. Fünfundfünfzig Sekunden lang lauschte sie den Stimmen und versuchte zu verstehen, dann hatte sie Gornji grad erreicht, die Oberstadt.
    Seit vier Monaten nun tauchte sie, während sie regelmäßig über Kroatien schrieb, Tag für Tag tiefer in seine Kultur, Sprache, Politik, Geschichte und Wirtschaft ein, verbrachte Stunden in Bibliotheken, Archiven, in Gesprächen, vor dem Fernseher, dem Radio, knüpfte Kontakte. Ausländische Kollegen mied sie, in den Presse-Club ging sie selten. Eine ungeheure Sehnsucht hatte sie ergriffen, und sie folgte ihr wie in Trance. Sie wollte dieses Land und seine Menschen begreifen und ein Teil davon werden.
    Endlich wieder Teil sein von etwas.
    Vergiss bitte den Rest nicht, hatte Henning Nohr nach zwei Monaten gemahnt. Sarajevo, Belgrad und so.
    Also reiste sie gelegentlich nach Sarajevo, Belgrad und so und kehrte jedes Mal fiebrig vor Freude nach Hause zurück.
    Natürlich konnte es nicht ausbleiben, dass sie früher oder später auch die Schattenseiten Kroatiens entdeckte. Kriegsverbrechen während der Operation »Sturm« im August 1995 zum Beispiel.
    Irgendwann fand man eben auch, was man nicht suchte.
    Irena Lakič zuckte die Achseln. »Und?«
    »Das Foto.« Ahrens deutete auf den Zeitungsartikel, den sie auf das Tischchen gelegt hatte.
    Das Foto des Kapetan.
    Ein junger kroatischer Soldat in Großaufnahme, der einem greisen serbischen Zivilisten die Pistole an die Schläfe presste und mit der anderen Hand dessen Kopf an den Haaren nach hinten zu zerren schien. Die Miene des Kroaten spiegelte blanken Zorn wider, die des Serben panische Angst. Augen und Mund waren aufgerissen. Aus der Nase lief Blut.
    Im Hintergrund ausgebrannte Häuser, ein Stück weiter eine halb zerstörte, kleine orthodoxe Kirche, die Mauern schwarz gefärbt von Flammen.
    Die Bildunterschrift lautete: 25.8.95, bei Knin: Ein serbischer Schlächter zittert vor der gerechten Strafe durch den jungen Kapetan.
    Das Foto war nicht ganz scharf, doch die beiden Männer, die Pistole und die Kirche waren gut zu erkennen.
    Der Artikel war in einer Regionalzeitung aus Split erschienen. Darin wurde die rasche Rückeroberung der 1991 von den serbischen Bewohnern für autonom erklärten kroatischen Vojna Krajina gefeiert, der ehemals österreichisch-ungarischen Militärgrenze zwischen Kroatien und Bosnien. Vom »Vaterländischen Krieg« war die Rede, vom »verehrungswürdigen« Präsidenten Franjo Tuđman, der die »serbischen Monster Milošević, Hadžić, Karadžić und Mladić« niederringe, von der »glorreichen Operation ›Sturm‹«, von »kroatischen Helden der Heimat« wie dem jungen Soldaten, den die Kameraden nur »Kapetan« nennen würden.
    »Wir wissen, was 1995 in der Krajina passiert ist«, sagte Irena Lakič auf Kroatisch. Sie nahm die Brille ab, wischte mit der Serviette letzte Regentropfen von den modisch großen Gläsern. »In Den Haag sitzen die Verantwortlichen von damals in Untersuchungshaft.«
    Ahrens nickte, sie verfolgte den Prozess »Gotovina et al.«. Wenige Wochen zuvor waren die Schlussplädoyers gehalten worden. Die Verteidigung hatte auf Freispruch plädiert, die Anklage verlangte siebenundzwanzig Jahre Haft für General Ante Gotovina, der im August 1995 den kroatischen Angriff in der südlichen Krajina geführt hatte. Im Dezember sollte das Urteil verkündet werden.
    Sie saßen im Café »Bonn« am Fenster und tranken Cappuccino. Über die Scheiben schlängelten sich Wasserlinien, dahinter hasteten Schatten vorbei. Deutsche Journalistin sucht Kroatischlehrer, hatte Ahrens vor drei Monaten inseriert. Irena Lakič hatte angerufen und gesagt: Wir
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