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Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum

Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum

Titel: Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
Autoren: Oliver Bottini
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einzelnen, bewegten Gliedern bestehend erwiesen.
    Die Ordnung löste sich erst auf, wenn die Landung bevorstand, wenigstens wirkte es aus der Distanz so. Über den Maisäckern südlich von ihnen wogte und brandete es, Wellen aus Leibern hoben und senkten sich miteinander, gegeneinander, übereinander.
    Nach und nach lichteten sich die Wellen.
    Eine halbe Stunde später hatten sich Zehntausende Kraniche auf den Futterplätzen des Rhinluchs verteilt. Der Himmel war wieder blau, fern im Osten ging die Sonne auf.
    Adamek setzte den Feldstecher ab. Ihre Blicke begegneten sich. Um Ehringers Mund lag ein Lächeln. »Fahren wir«, sagte er.
    Adamek wischte die Tassen trocken, verstaute sie mit der Kanne, den Servietten, den Ferngläsern in Ehringers Rucksack.
    Sie sprachen nie über Linum.
    Adamek wusste nicht, weshalb sein Onkel Jahr für Jahr zu den Kranichen ins Rhinluch wollte, an einem beinahe beliebigen Morgen Mitte Oktober vor Anbruch der Dämmerung. Ehringer war kein Hobbyornithologe, kein Naturschützer, kein Bauer, kein Windradlobbyist. Und doch rief er Jahr für Jahr irgendwann im Oktober an und schlug einen Tag vor. Morgens um halb sechs fuhren sie nach Brandenburg, saßen bei Thermoskannentee und trockenem Gebäck in der Kälte und warteten.
    Beobachteten die Kraniche, wechselten kaum ein paar Worte.
    Fuhren nach Berlin zurück.
    Jahr für Jahr seit 1999.
    Niemals hatte Richard Ehringer an einem solchen Morgen eine Bitte geäußert. Geschweige denn, dachte Adamek, während er ihn zum Auto trug, eine Lüge.

3
    DIENSTAG, 12. OKTOBER 2010
    ZAGREB/KROATIEN
    Irgendwann fand man, was man suchte.
    Yvonne Ahrens hatte in New York gesucht, in Buenos Aires, in Tokio. Sie hatte ihren Job gemacht, sich in die Sprachen und Lebensweisen eingelernt und gewusst, dass sie nicht allzu lange bleiben würde.
    Die Stille und die Schuld würden sie einholen, egal, wo sie sich befand. Manchmal brauchten sie ein Jahr, manchmal zwei, dann hatten sie die Ozeane und Kontinente überwunden, und Ahrens wusste, dass es Zeit war zu gehen. Sie kehrte nach Deutschland zurück, wo es am schlimmsten war, und wartete auf den nächsten freien, möglichst weit entfernten Auslandsposten.
    Südosteuropa, hatte Henning Nohr vor fünf Monaten gesagt.
    Ist da nicht Roger?
    Kommt zurück, die Familie will nicht mehr.
    Mir wäre Afrika lieber, weißt du. Oder Australien. Die Arktis.
    Ich brauche dich in Zagreb.
    Schick Benny runter. Er spricht Kroatisch.
    Hat Probleme mit dem Cholesterin. Exjugoslawien, sagt er, wäre für ihn Selbstmord. Bitte. Du könntest sofort los.
    Also war sie Anfang Juni nach Zagreb gegangen – und hatte unvermutet gefunden, was sie all die Jahre gesucht hatte: ein neues Zuhause. Das Gefühl, an einen Ort zu gehören, an dem sie die Stille und die Schuld ertragen konnte.
    Sie wusste nicht genau, woran das lag. Vielleicht an der schlichten Beiläufigkeit, mit der man hier das Leben nahm. An der Unaufgeregtheit der Bewohner Zagrebs.
    Ein weiterer Grund mochte die Überraschung sein. Zum ersten Mal zog sie als Auslandskorrespondentin in ein Land, von dem sie ein ausschließlich negatives Bild gehabt hatte. Die Kroaten rau und aggressiv, die Sprache hart und fremd, Zagreb ein Konglomerat hässlicher realsozialistischer Betonblöcke, der restliche Balkan kaum anders, geschweige denn besser. Dann hatte sie die Menschen in Zagreb von Anfang an als warmherzig und lebenslustig empfunden, Kroatisch als faszinierend und sinnlich, das Stadtzentrum als bezaubernd.
    Selbst im strömenden Nachmittagsregen.
    Sie zog die Jacke über den Kopf und trat auf den Gehweg hinaus. Ihre Wohnung lag am Tomislav-Platz in der Unterstadt, vielmehr: am Trg Tomislava in Donji grad . Mochte auch der Putz des Gebäudes bröckeln, so war die Fassade immerhin klassizistisch, und die Fenster ihrer drei Zimmer gingen auf gepflegte Rasenflächen, Blumenbeete und Bäume hinaus. Wenn sie nachts nicht einschlafen konnte, hielt sie vom Bett aus mit dem bronzenen König Tomislav Zwiesprache, der im zehnten Jahrhundert Kernkroatien, Slawonien sowie Teile Bosniens und Dalmatiens zu einem ersten kroatischen Staat vereint hatte. Er war ein guter Zuhörer. Kannte sich aus, wenn es um Einsamkeit ging.
    An dem Platz entlang eilte sie nach Norden, passierte den gelben Kunstpavillon, schließlich den Hauptplatz Zagrebs, früher Platz der Republik, seit dem Unabhängigkeitskrieg Trg Bana Jelačića , an dem sich die Routen der blauen Straßenbahnen kreuzten.
    Allein dieses Wort,
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