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Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum

Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum

Titel: Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
Autoren: Oliver Bottini
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selbst. Gehetzt drehte sie sich um die eigene Achse, um es sich und anderen recht zu machen. Manchmal schleuderte sie die Zentrifugalkraft zu Boden. Dann lag sie nachts weinend im Bett und klammerte sich an ihn. Und das rührte Adamek zutiefst.
    In solchen Moment spürte er etwas, was kaum sonst jemand an ihr wahrnahm: Wärme, Weichheit, die Sehnsucht nach Nähe.
    »Vielleicht in ein, zwei Jahren«, sagte er.
    »Wartet nicht zu lang.«
    »Ist uns nicht so wichtig, weißt du.«
    »Sollte es aber sein.«
    Sie kamen an Maisäckern vorbei, folgten einspurigen, von Bäumen gesäumten Straßen mit Rissen im Belag. Noch war es draußen dunkel, doch wenn Adamek einen Blick nach Osten erhaschte, sah er die ersten Silberfäden am Horizont.
    »Keine Sorge, heute ist ein guter Tag«, sagte Ehringer.
    Als die Morgendämmerung ihr Licht über Brandenburg warf, saßen sie auf einem matschigen Grasstreifen außerhalb von Linum an der Straße, der Onkel im Rollstuhl, der Neffe auf einem Klappstuhl. Ehringer hatte eine Thermoskanne mit schwarzem Tee aus dem Rucksack genommen, zwei Plastiktassen, dazu Plunderteilchen vom Vortag, die sie schweigend aßen.
    Um beider Hals hing ein Feldstecher. Sie waren bereit.
    Seit elf Jahren kamen sie Mitte Oktober einmal hierher. Essen gehen, spazieren gehen, ja, und einmal im Jahr das Rhinluch am frühen Morgen. Aber das hatte der Onkel aus Bonn bei ihrem ersten Telefonat wohlweislich für sich behalten.
    Adamek ließ den Blick über die feuchte graue Landschaft gleiten. Äcker, Grasflächen, Baumreihen und im Nordwesten verborgen die Teiche und Sumpfgebiete, die das Rhinluch so besonders machten.
    Gähnend zog er den Mantel enger, versenkte den Hals im Kragen. Manchmal warteten sie Stunden. Die Natur funktionierte nach Dunkelheit und Licht, nach Sonne und Niederschlag, nicht nach den Zeigern einer Uhr.
    Heiraten, dachte er.
    Dass Karolin sich nicht dazu entschließen konnte, hing wohl letztlich auch mit dem Unterschied zwischen Primär- und Sekundärerfahrung zusammen. Zwei Begriffe, die präzise beschrieben, weshalb sie ihn liebte und weshalb sie sich irgendwann von ihm trennen würde. Er stand als Kripobeamter für die Primärerfahrung, sie als Lektorin für die Sekundärerfahrung. Er sah das Leben in all seinem Schmutz, sie nahm es in all seiner Ästhetik wahr und empfand den Schmutz als aufregend und authentisch. Das reizte ein paar Jahre lang, dann vielleicht nicht mehr. Nur Gegensätze, Gemeinsamkeiten mussten erst geschaffen werden, aus den Gegensätzen. Wie das Wohnen in der Platte.
    Eines Tages, dachte er, würde er ihr nicht mehr genügen.
    »Ich habe eine Bitte an dich, Lorenz«, sagte der Onkel.
    Adamek sah ihn überrascht an.
    »Kannst du einen Namen für mich recherchieren?«
    »Was meinst du mit ›recherchieren‹?«
    »Durch eure Datenbanken schicken.«
    Er nickte zögernd.
    Ein Bekannter, vor Jahren aus den Augen verloren, sagte Ehringer. Thomas Ćavar, Deutscher mit kroatischen Eltern, 1971 in Rottweil, Baden-Württemberg, geboren. Keine relevanten Treffer durch die Suchmaschinen natürlich, sonst würde er sich nicht an den Neffen wenden.
    Adamek nickte erneut. »Sonst irgendwelche Anhaltspunkte?«
    »Nein«, sagte Ehringer und wandte sich ab.
    Und Adamek konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er log.
    Gegen sieben kamen die Kraniche.
    Sie griffen nach den Ferngläsern, justierten sie.
    »Sechzigtausend sind hier«, sagte Ehringer.
    »Hatten wir schon mal so viele?«
    »Vor zwei Jahren waren es achtzigtausend.«
    Erst kamen ein paar, dann wurden es immer mehr. Zumeist in Dreiecksformationen, hinter- oder nebeneinander zogen die Kraniche über sie hinweg, von den Schlafplätzen in den Teichgebieten zu den nahen, abgeernteten Maisfeldern, schlanke dunkle Leiber mit nach vorn gereckten Hälsen und weiten Schwingen. Ein-, zweihundert Meter über Adamek und Ehringer rauschte es und trompetete aus Tausenden Kehlen. Der Himmel wurde wieder schwarz, während im Osten die Sonne aufging.
    Er konnte nicht recht glauben, dass die Kraniche die Nächte auf einem Bein stehend in den flachen Gewässern des Rhinluchs verbrachten, wenn auch nur auf der Durchreise in den Süden. Nicht in Florida oder Afrika oder China, sondern hier, in Brandenburg, vierzig Kilometer vor Berlin.
    Er mochte sie. Die Ordnung ihres gemeinsamen Fluges gefiel ihm, die mäandernden Linien, die riesigen Dreiecke, mal breit, mal spitz, die ihm aus der Ferne wie festgefügt erschienen und sich nach und nach als aus
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