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Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum

Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum

Titel: Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
Autoren: Oliver Bottini
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stand im matten Schein einer Straßenlaterne vor dem Pflegeheim. Auf Ehringers Schoß lag ein Rucksack.
    Adamek hielt ein paar Meter vor ihm und stieg aus. Als er sich bückte, um Ehringer flüchtig zu umarmen, spürte er ein Stechen in der Lendenwirbelsäule. Immer häufiger klemmte das Becken, er saß zu viel. Karolin empfahl Yoga auf dem Balkon der Freiheit. Er lag lieber auf dem Sofa. Es lag sich gut auf siebentausend Euro.
    »Schön, dich zu sehen«, sagte er.
    »Danke, gleichfalls. Fahren wir?«
    Adamek legte den Rucksack in den Fond. »Wie sieht’s mit dem Wetter aus?«
    »Sechs Grad, klar, leichter Westwind.«
    »Kein Regen?«
    »Dann hätte ich es verschoben, Lorenz.« Ehringer hielt die Arme hoch. Die Geste hatte etwas Kindliches, und Adamek musste schmunzeln. Trägst du mich, Papa?
    Erneut bückte er sich, erneut stach die Hüfte. Er lächelte verlegen, als er den leblosen Körper anhob. Onkel und Neffe, aber sie blieben einander fremd.
    Sonst hatte Richard Ehringer nichts Kindliches an sich. Wie auch? Fast dreißig Jahre in der Politik, zuletzt Referatsleiter im Auswärtigen Amt unter Hans-Dietrich Genscher, damals noch, in der Bonner Republik. Dann, 1992, das abrupte Ende, seitdem in Pflegeheimen für verdiente Staatsbeamte und andere Eliten. Ein einstmals einflussreicher Mann aus dem inneren Zirkel, auf dessen Schultern ein Höchstmaß an Verantwortung gelastet hatte. Nun wurden die Schultern von halbjährlich wechselnden Zivildienstleistenden zur besseren Durchblutung mit Bienengiftcreme eingerieben.
    Vorsichtig setzte Adamek ihn auf den Beifahrersitz. Von Jahr zu Jahr, so kam es ihm vor, wurde der Onkel leichter. Schon 1999, als sie sich wiedergesehen hatten, war er fast zierlich gewesen. Jetzt, mit Mitte sechzig, war er, sah man von den Armmuskeln ab, hager und knochig.
    Aber willensstark.
    Adamek verstaute den Rollstuhl im Kofferraum.
    »Fahren wir über Spandau«, sagte Ehringer, als er neben ihm saß, »nicht über die Autobahn.«
    »In Ordnung. Stört dich die Musik?«
    »Nein, ich mag Mendelssohn.«
    Sie passierten Schloss Charlottenburg, folgten dem Spandauer Damm. In ihrer Richtung hin und wieder ein Bus, ein Pkw, in der Gegenrichtung setzte der Berufsverkehr ein. Linker Hand glitt Adameks Dienststelle vorüber, er sagte nichts. Details interessierten den Onkel nicht.
    Auch Ehringer schwieg. Er war kein Mann der vielen Worte. Nicht mehr, so hatte Adamek es verstanden.
    Er dachte an den Anruf vor elf Jahren.
    Der Bruder deiner Mutter, erinnerst du dich?
    Ja. Ich meine, nicht so richtig.
    Der Onkel aus Bonn, ein stimmloser Schatten in seinem Gedächtnis. Adamek war zwei, drei Jahre alt gewesen, als Ehringer ein paar Mal zu Besuch gekommen war, Anfang der Siebziger.
    Ich ziehe nach Berlin, hatte der Onkel 1999 gesagt. Ich dachte, wir könnten hin und wieder zusammen etwas unternehmen. Essen gehen, spazieren gehen. Aber du musst mich schieben, ich sitze jetzt im Rollstuhl.
    Adamek hatte eine Weile gebraucht, bis er verstanden hatte, weshalb Ehringer nicht nach München gezogen war, wo seine Schwester – Adameks Mutter – wohnte. Die Politik ging nach Berlin, und der Onkel brauchte sie zum Überleben. Brauchte die sporadischen Besuche ehemaliger Kollegen, die gelegentlichen Einladungen in die Ministerien. Er war draußen, aber er wollte noch zum Dunstkreis gehören.
    »Ist es nicht schön hier?«, fragte Ehringer.
    »Ja«, sagte Adamek.
    Sie hatten Spandau hinter sich gelassen und fuhren durch den Staatsforst Falkenhagen. Zwei schnurgerade Kilometer auf Kopfsteinpflaster und keine Menschenseele außer ihnen.
    »Wie geht es Karolin?«
    »Arbeitet zu viel.«
    »Ihr solltet heiraten.«
    »Wir sprechen manchmal darüber.«
    »Und?«
    Adamek zuckte die Achseln.
    Mit Tempo dreißig schlichen sie durch ein entrücktes Walddorf. Verwunschene Häuser inmitten der Natur, stille Wege, die sich zwischen den Bäumen verloren. Ein Hauch siebziger Jahre mit Sprenkeln westlicher Ökoarchitektur.
    Heiraten war gerade nicht so hip.
    Außerdem, argumentierte Karolin, hätten sie für Kinder keine Zeit, glaubten nicht an die lebenslange Partnerschaft, seien ihnen die Kirche ein Gräuel und der Staat – zumindest ihr – ein Ärgernis. Wozu also einen Wisch unterschreiben?
    Doch das war alles nur Gerede.
    Karolin war Perfektionistin und hatte panische Angst vor dem Versagen. Als Ehefrau, als Mutter, sogar als Katzenmama und Köchin, wenn sie denn einmal kochte. Sie war eine Gefangene ihrer Ansprüche an sich
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