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Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum

Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum

Titel: Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
Autoren: Oliver Bottini
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töten wollten, und von denen, die man selbst getötet hat. Von Dingen, die überhaupt nicht passiert sind.
    Er hatte vom Krieg geträumt, ja, aber irgendwann hatte es aufgehört. Er hatte oft über seine Erlebnisse gesprochen, als Flüchtling Ajdin Imamović hatte er Anspruch auf Gespräche gehabt. Er hatte die Ortsnamen verändert, die Länder vertauscht und stundenlang erzählt. Und allmählich hatten ihm die Erinnerungen keine Schockwellen mehr durch den Körper gejagt. Er hatte wieder durchgeschlafen, war ruhiger geworden.
    Da war Jelena bereit gewesen, eine Familie zu gründen.
    Lilly war geboren worden.
    Siehst du, das Leben meint es gut mit uns.
    Es ist zu früh, um das zu sagen, Tommy.
    Im Laufe der Jahre begann man zu vergessen. Andere Dinge wurden wichtiger für das Leben, das man inzwischen führte, brauchten Raum im Kopf. Nur einzelne Bilder blieben im Gedächtnis haften, ohne zu verblassen. Das zerfallene Gesicht von Josip Vrdoljak, den er verehrt hatte wie einen freundlichen Großvater. Der cremefarbene Palačinke. Die Fernsehbilder aus dem zerstörten Vukovar, der Stadt Jelenas. Dietrich Marx, der im einen Moment lachte wie ein Kind und im nächsten wie nebenbei erzählte, dass er im Oktober 1991 in Gospić Todeslisten abgearbeitet hatte, auf denen die Namen einheimischer Serben standen.
    Der Anblick des verzweifelten Richard Ehringer im Krankenhaus in Bonn. Die wunderbaren Stunden, als er mit Jelena von Bautzen nach Rottweil zurückgefahren war, Millionen Kilometer und Jahre vom Krieg entfernt.
    Der Velebit und die blaue Adria, die er im September 1993 in der Ferne gesehen hatte, kurz nach »Medak«.
    Schnelle Schritte draußen, die Türen wurden geöffnet, zugeschlagen, er spürte Feuchtigkeit.
    Eine Hand schob die Heckablage zurück, Jordan löste den Knebel, reichte ihm einen Döner. »Du kannst dich hinsetzen.«
    Er richtete sich auf.
    Über die Scheiben liefen Sturzbäche, die Konturen dahinter waren verzerrt. Der Van stand in einer Ecke des obersten Decks eines Parkhauses, jenseits der Steinbrüstung dunkelbraune Flächen, Wohnhäuser. Als er den Kopf drehte, sah er neben dem Wagen einen kleinen Aufbau mit Metalltür und vorstehendem Dach.
    Er aß, obwohl er keinen Appetit hatte.
    »Sind wir in Berlin?«
    »Ja«, erwiderte Jordan, der im Fond saß und ebenfalls einen Döner in der Hand hielt.
    »Und wie geht es weiter?«
    »Wir warten.«
    »Auf Mate Sjelo?«
    Jordan nickte.
    »Und dann?«
    »Irgendwann ist der Weg zu Ende, Kapetane .«
    Er wusste, was ihn erwartete. Nach dem Mord an Stjepan hegte er keine Hoffnung mehr. Jordan und Igor konnten es sich nicht erlauben, den einzigen Zeugen am Leben zu lassen.
    Wenigstens, dachte er, war es dann vorbei. Jelena würde ohne die Angst leben, dass irgendwann erneut die Geister der Vergangenheit auftauchten.
    Ein schwacher Trost. Aber ein Trost.
    Sie würden es hier tun. Ihn im Kofferraum liegen, den Wagen stehen lassen. Deshalb hatten sie hier geparkt, hinter dem Lüftungsaufbau, wo keine Überwachungskameras zusahen.
    Irgendwann ist der Weg zu Ende.
    Keine Alternativen, keine Wünsche. Es gab nur diesen Weg. Nur dieses Leben. Und das hatte es sehr lange gut mit ihm gemeint.
    Jordans Telefon klingelte.
    Er lauschte einen Moment. »Da.« Während er das Telefon einsteckte, sagte er: »Er ist unten, kommt jetzt hoch.«

54
    SAMSTAG, 16. OKTOBER 2010
    ZAGREB/KROATIEN
    Yvonne Ahrens schrak um elf aus dem Schlaf. Sie lag allein im Bett, das Kissen neben ihr noch eingedrückt von Voris Kopf.
    Auf dem Esstisch fand sie eine Nachricht. Bin nach Stenjevec, ein paar Sachen für die Reise holen. Warte in der Wohnung. Geh nicht raus! Ich komme um eins. G.
    G., dachte sie. Vertraut gemeint und doch so unpersönlich.
    Sie setzte sich, studierte Voris Handschrift. Deutlich und bestimmt, so, wie er sprach, handelte, vögelte. Ein Mann, der durch seine Kompromisslosigkeit einsam geworden war und durch seine Einsamkeit zum Zentrum seiner Welt. Sie hatte sich auf Kämpfe einlassen müssen, um zu bekommen, was sie wollte, beim Reden wie beim Sex: Mitgefühl und Aufmerksamkeit.
    Sie schmunzelte. Sie kämpfte gern.
    Rasch zog sie sich an. Natürlich würde sie hinausgehen. Sie hatte Hunger, der Kühlschrank war leer, bis zum Flughafen wollte sie nicht warten.
    Voris kleine schwarze Pistole in der Handtasche, verließ sie die Wohnung.
    Zagreb lag im Sonnenschein, blendendes Licht, grelle Reflexe von den Fensterscheiben, sie hatte die Sonnenbrille vergessen und musste die
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