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Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum

Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum

Titel: Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
Autoren: Oliver Bottini
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Aufmerksamkeit.
    Das andere Heute.
    Das eine geschah wirklich, das andere in ihrem Kopf. Oder umgekehrt? Hin und wieder war sie sich nicht sicher. Dann legte sie den Kopf schief und schloss die Augen und wartete auf schwäbische Stimmen und Gerüche. Hörte nur die Kühlung des Laptops und roch Formaldehyd.
    Sie ging vom Wohnzimmer ins Büro. Der kleinste Raum, die Wände von Regalen gesäumt, die Regale mit Südosteuropa gefüllt. Auf dem Faxgerät das Schreiben von »Dr. Rüdiger Blücher, Leitender Oberstaatsanwalt«, eine Ecke eingeknickt. Der Wind hatte es vom Tisch geweht, Vori hatte es im Flug aufgefangen.
    Vori mit dem niedlichen Rettungsring.
    Kevin Costner, yeah.
    Hatte nicht geholfen gegen das Ertrinken, der Rettungsring … Sie lachte entsetzt auf. Das andere Heute. Oder doch das eine?
    Wieder läutete das Telefon. Wieder stand auf dem Display Irena Lakić . Und wieder ging sie nicht dran. Noch einmal alles von vorn?
    Du musst herkommen.
    Was? Wohin?
    Rechtsmedizinisches Institut. Sie haben Goran getötet.
    Vielleicht auch nur weitere Vorwürfe. Der Blick war schlimm genug gewesen.
    Deine Schuld.
    Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und setzte sich an den Laptop.
    Henning Nohr hatte geantwortet.
    Sie würden beides bringen, die Nachricht von der Ermordung des Zagreber Kollegen und den Artikel über den deutschkroatischen Kriegsverbrecher, schon in der Sonntagsausgabe, falls die Kollegen das noch hinbekämen.
    Aber eines muss ich wissen: Bist du sicher, dass V. ermordet worden ist? Gibt es Zeugen? Beweise?
    V., dachte sie kopfschüttelnd. Es musste doch G. heißen.
    Ja, schrieb sie. Er hatte Angst vor Wasser und wäre nie freiwillig in die Save gegangen.
    Angst vor dem Schwimmen, vor dem Fliegen, vor Ivica Marković.
    Nicht so ernst, Goran. Die Sonne scheint, du hast Arbeit, wirst mit einer schönen Frau eine Reise machen.
    Nach dem Essen ein Spaziergang durch den milden baden-württembergischen Herbst auf Kopfsteinpflaster, Rottweil klang nach mittelalterlicher Innenstadt … Sie hätte sich bei G. eingehakt; Hand in Hand wäre zu vertraut gewesen.
    Und dass Marković mit drinsteckt, lässt sich auch beweisen?, schrieb Henning Nohr.
    Ja, antwortete sie.
    Morgen früh würde sie wie heute früh die Augen öffnen und in seine blicken. Er würde »Buh« machen und in Gelächter ausbrechen.
    G. und Gelächter, man hätte es nicht für möglich gehalten.
    Sie schloss die Lider.
    Nur das Summen und das Formaldehyd.
    Minuten später flammten draußen die Straßenleuchten auf. Sie ging zum Fenster. Da war er, der König, nach Süden reitend, die Lanze in der Hand, ihr einsamer Freund, der niemals irgendwo ankommen würde.
    Wieder Novi Zagreb am Abend, doch diesmal nicht in G.’s Panda, sondern in einem Taxi. Als sie ausstieg, fiel ihr Blick auf die horizontalen Lichtbänder des Mamutica jenseits des Travno-Parks, fünf-, sechshundert Meter entfernt. Sie dachte an Slavko, der sein Telefon außer Betrieb genommen hatte. Er war klug, er würde Sisak verlassen. Er wusste, dass G. nicht freiwillig ins Wasser gegangen war.
    Sie wandte sich ab.
    An einem kleinen Grünstreifen entlang der Straße stand eine verschmutzte Bank. Sie setzte sich, richtete den Blick auf den Eingang des Verteidigungsministeriums gegenüber und begann zu warten. Er arbeitete viel, hatte zwei Jobs, den offiziellen im Ministerium, den inoffiziellen im Geheimen, da hatte man auch am Wochenende zu tun. Irgendwann würde er auftauchen.
    Sie musste nicht lange warten. Kaum eine halbe Stunde später schoss die schwarze Limousine heran und bremste hart. Zvonimir sprang heraus, lief zum Eingang.
    Sie erhob sich.
    Als Ivica Marković aus dem Gebäude kam, hatte sie die Straße überquert. Auch er war in Eile, stürzte mit Zvonimir in Richtung Wagen, als hätte er das schlechte Gewissen im Nacken. Sie lachte auf. Das schlechte Gewissen stand vor ihm.
    » Gospođo Ahrens …«, murmelte er und verharrte abrupt.
    Sie fand, dass er noch erschöpfter und besorgter wirkte als am Vorabend. Zu viele Morde, das schlug auf die Seele.
    Zvonimir war nicht stehen geblieben, mit ausgestrecktem Arm näherte er sich ihr. Erst ein Befehl von Marković stoppte ihn.
    Nicht nachdenken. Einfach abdrücken.
    Aber sie hatte schon angefangen nachzudenken.
    Wenn sie überleben wollte, musste sie zuerst Zvonimir erschießen. Doch sie wollte Zvonimir nicht erschießen. Er hatte nichts getan, außer ihr Angst einzujagen. Hatte vor ihrer Wohnung gestanden, während andere
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