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Der Junge mit den blauen Haaren

Der Junge mit den blauen Haaren

Titel: Der Junge mit den blauen Haaren
Autoren: Doris Loesel
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man nicht kennt, vermisst man auch nicht … oder?
Natürlich habe ich während der wenigen Wochen, in denen ich dann unvermutet eine öffentliche Schule besuchen durfte, alles in mich aufgesaugt, wie ein Schwamm.
Und verknallte mich prompt in einen heißen Typen einer vermutlich angesagten Band, dessen Bild ich einige Sekunden lang auf dem Cover einer CD gesehen habe, die eine Schulkameradin unter ihrem Matheheft versteckt hatte.
Ich seufze, während ich sein Bild aus meinem Gedächtnis hervorkrame. Leider ist mein Gehirn der Ansicht, ich müsse über andere Dinge nachdenken.
Wie zum Beispiel darüber, was geschieht, wenn ich krank bin. Dann nämlich kommt ein Arzt zu uns.
Ja, ich habe tatsächlich einen Leibarzt.
Glücklicherweise habe ich, bis auf hie und da mal eine Erkältung oder gelegentliche Panikattacken, nie irgendwelche ernsthaften Erkrankungen, die einen Aufenthalt in einer Klinik erforderlich machen würden.
Vermutlich hätte mein Vater aber auch hier gewusst, was zu tun ist, um mich von der Öffentlichkeit fernzuhalten. Höchstwahrscheinlich hätte er einen Operationssaal im Keller unserer Villa einrichten lassen und ein komplettes OP-Team nebst dazugehörigem Chirurgen gekauft.
Unangenehm sind mir nur die von ihm angesetzten halbjährlichen Check ups, bei denen ich sozusagen links gemacht werde.
Wobei ich beim unangenehmsten Teil meiner Gedanken ankomme.
Warum nur durfte ich bis vor zwei Monaten niemals Kontakt zur Außenwelt haben? Und – noch wichtiger – wieso darf ich es plötzlich?
Und warum, verdammt nochmal, hüpfen meine Gedanken von einem Extrem ins nächste?
Den kleinen Unfällen, die sich während meines Schulaufenthaltes ereigneten, habe ich keine Bedeutung beigemessen. Schließlich war ich bis dato immer nur zuhause. Vermutlich stellte ich mich eben nur ungeschickt an, wenn es beispielsweise darum ging, in der Schul-Bibliothek ein Buch aus dem Regal zu holen. Die kleine dreieckige Narbe über meiner linken Augenbraue, an der mich das Buch traf, ist noch immer zu sehen.
Dass ich dämlicherweise stolperte, gerade, als die riesige Kehrmaschine über den Schulhof fuhr, nun, daran kann man eben nur meine Schusseligkeit erkennen.
Taylor war es, der mich gerade noch vor dem Ungetüm wegzog, bevor die gewaltigen rotierenden Kehrbesen mich auffegen konnten.
Dass das Kletterseil während des Sportunterrichts genau in dem Moment riss, als ich es bis nach oben geschafft hatte … okay, die Schule hat immerhin bereits einige Jährchen auf dem Buckel, also wird auch das Inventar schon aus Kaiser Barbarossas Zeiten stammen.
Erneut seufze ich.
Liebevolle Menschen würden vielleicht behaupten, dass es diese kleinen Unfälle sind, die meinen Vater dazu bewogen haben, mich von der Schule zu nehmen und mich in ein Internat zu stecken, in dem ich sicherer aufgehoben bin.
Ich weiß es jedoch besser. Dieser Mann hat noch niemals Liebe für mich empfunden.
Über all der Grübelei schlafe ich schließlich ein und träume von blauhaarigen, gutaussehenden Jungs mit Augen so tiefblau wie Ozeane, die mir auf einer futuristisch anmutenden Säuglingsstation drei winzige Babys in blauen Stramplern zeigen.
    ***
    Es ist 6:00 Uhr am Abend, als ich in Castillian High ankomme und sofort ins Büro marschiere, um mich ordnungsgemäß anzumelden und vorzustellen.
Unser small talk dauert nicht sehr lange.
Kein Wie war Ihr Flug? oder Sie sehen erschöpft aus, meine Liebe!
Nicht, dass ich sowas erwarten würde. Aber es wäre doch mal eine gelungene Überraschung gewesen.
„Tut mir Leid, Miss Pattson“, erklärt mir Mrs. McMillan, die Internatsleiterin, mit süßlichem Lächeln und einem herben Akzent, den ich nach zur Kenntnisnahme ihres Namens als irgendwo zwischen Irland und Schottland ansiedele. „Leider haben wir keinen Aufzug. Aber Sie sind doch jung und gesund. Sehen Sie es als sportliche Betätigung vor dem Abendessen, das im Übrigen pünktlich um 8:00 Uhr serviert wird.“
Es gelingt mir, sie anzulächeln. Ich bin stolz auf mich.
Eigentlich würde ich sie lieber erwürgen.
Außerdem werde ich ihr niemals eingestehen, dass ich sowieso die Treppe bevorzugt hätte. Von der Panik, die mich in kleinen engen Räumen überkommt, werde ich ihr garantiert nichts erzählen.
Mrs. McMillan sieht genauso aus, wie man sich die Leiterin eines Internats in seinen Albträumen vorstellt. Eine Matrone mit grauem strengem Dutt und verkniffenem Mund. Ihre Augen, deren Farbe ich nicht erkennen kann, sind hinter dicken runden
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