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Der Junge mit dem Herz aus Holz

Der Junge mit dem Herz aus Holz

Titel: Der Junge mit dem Herz aus Holz
Autoren: John Boyne
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Zeitgefühl, wenn sie den Baum anschauen. Er ist wirklich das Spannendste in unserem ganzen Dorf. Außer der Statue natürlich.«
    »Außer welcher Statue?«, fragte Noah.
    »Soll das heißen, du hast sie noch gar nicht gesehen? Sie steht direkt hinter dir.«
    Noah drehte sich um, und tatsächlich, da stand eine große Granitstatue: ein grimmig dreinschauender junger Mann in Turnhose und Trikot. Die Arme reckte er triumphierend in die Höhe, und unterhalb von seinen Füßen standen in Stein gemeißelt die Worte
DMITRI CAPALDI: SCHNELL
. Noah war sehr überrascht, denn er war sich ganz sicher, dass die Statue gerade eben noch nicht da gewesen war.
    »Vielleicht was Zuckriges?«, fragte der Esel und steckte plötzlich die Nase in Noahs Tasche, so dass dieser ganz erschrocken zurückwich.
    »Lass den Jungen in Ruhe, Esel!«, sagte der Dackel. »Er hat nichts Süßes dabei. Stimmt’s?«, fügte er schnell hinzu und musterte Noah mit zusammengekniffenen Augen.
    »Ja, stimmt, ich habe nichts Süßes dabei, Sir«, antwortete Noah. »Im Gegenteil – ich habe selbst einen Riesenhunger.«
    »Das enttäuscht mich aber«, murmelte der Esel und wackelte mit dem Kopf. Er sah aus, als würde er gleich anfangen zu weinen. »Das enttäuscht mich sogar sehr.«
    »Du musst wissen«, fuhr der Dackel fort, beugte sich ein Stückchen vor und senkte die Stimme, »es gibt Leute – und zu denen würde ich mich selbst auch zählen –, die den Baum viel imposanter finden als die Statue. Deshalb glotzen die Leute ihn so lange an. Ich selbst vermeide es lieber, ihn anzuschauen, wenn’s irgendwie geht. Wegen des Baums habe ich nämlich schon die Geburtstagsfeier eines Freundes verpasst. Zwei Jahre nacheinander.«
    »Und du hast jedes Mal einen erstklassigen Kuchen verpasst«, sagte der Esel bedächtig. Beim Gedanken an den Geburtstagstisch lächelte er selig, doch dann füllten sich seine braunen Augen mit dicken Tränen. »Beide Male hatte der Kuchen einen Zuckerguss mit Verzierungen, die aussahen wie Rosen. In einem Jahr war der Guss grün, im nächsten orange. Ich kann kaum noch schlafen, weil ich mich schon dauernd frage, welche Farbe der Zuckerguss dieses Jahr hat. Meinst du, er ist rot? Ich könnte es mir jedenfalls gut vorstellen, dass er rot ist. Oder vielleicht blau … Und gelb gibt es natürlich auch noch«, fügte er nach einer längeren Pause hinzu.
    »Ja, ja, Esel«, sagte der Dackel. »Es gibt viele, viele Farben auf der Welt. Wir haben verstanden. Aber wir sollten die Geduld unseres neuen Freundes nicht zu sehr strapazieren.«
    »Du versteckst nicht zufällig irgendwo ein Stück Kuchen?«, fragte der Esel.
    Noah überging die Frage des Esels und wandte sich dem Dackel zu. »Was ist an dem Baum so ungewöhnlich?«, fragte er. »Es gibt doch so viele Bäume auf der Welt, bestimmt Millionen und Millionen.«
    »O nein!« Der Dackel schüttelte den Kopf. »Nein, das ist ein weitverbreiteter Irrtum, ein Denkfehler. Es gibt eigentlich nur einen einzigen Baum. Die Bäume teilen alle eine universelle Wurzel, musst du wissen, im Mittelpunkt der Welt, und aus dieser Wurzel wachsen sie alle heraus, das heißt, im Grunde genommen gibt es nur einen Baum.«
    Noah dachte eine Weile nach, dann schüttelte er den Kopf. »Das stimmt nicht«, sagte er und lachte ein bisschen, weil er die Theorie doch ziemlich absurd fand, woraufhin der Dackel laut und lange bellte. Er entblößte dabei die Zähne, und der Sabber lief ihm aus der Schnauze, und es dauerte mehrere Minuten, bis er endlich wieder aufhörte zu bellen. Der Esel schaute seufzend weg und untersuchte das Gras unter seiner Nase, ob es dort vielleicht etwas Leckeres für ihn zu entdecken gab.
    »Ich muss mich entschuldigen«, murmelte der Dackel, als er sich endlich wieder im Griff hatte. Er wirkte etwas betreten. »Aber so bin ich eben, da kann ich nichts machen. Ich mag es nicht, wenn man mir widerspricht.«
    »Ist schon gut«, sagte Noah. »Auf jeden Fall ist der Baum etwas ganz Besonderes, egal, woher er kommt.«
    »Stimmt. Und ich muss gestehen, es ist der einzige Baum im Dorf, den ich noch nie …« Der Dackel wurde rot und blickte sich um, als hätte er Angst, es könnte jemand mitgehört haben. »Ich will sagen: Es gibt gewisse Dinge, die ein Hund lieber draußen im Freien erledigen sollte, während ein Junge dafür ins Haus geht.«
    »Schon kapiert«, kicherte Noah, gab aber nicht zu, dass er es selbst heute Morgen schon im Freien getan hatte. »Sie haben also
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