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Der Junge mit dem Herz aus Holz

Der Junge mit dem Herz aus Holz

Titel: Der Junge mit dem Herz aus Holz
Autoren: John Boyne
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abenteuerlicher klang als der wahre Grund, über den er lieber nicht nachdenken wollte. Jedenfalls nicht so früh am Morgen.
    Und jetzt war er hier, ganz allein auf der Straße, ein junger Krieger, der in die Schlacht zog. Er drehte sich um und dachte bei sich:
Das war’s! Ich werde dieses Haus nie wieder sehen!
Und ging weiter, mit dem lässigen Gang eines Mannes, der weiß, dass er bei der nächsten Wahl garantiert zum Bürgermeister gewählt wird. Man musste selbstbewusst auftreten – das war ihm schon lange klar. Schließlich hatten Erwachsene die blöde Angewohnheit, bei Kindern, die allein herumliefen, gleich zu vermuten, dass sie irgendetwas Kriminelles vorhatten. Keiner kam auf die Idee, dass es sich vielleicht einfach nur um einen jungen Menschen handelte, der aufbrach, um die Welt zu sehen und um große Abenteuer zu erleben. Sie waren so engstirnig, so kleinkariert, diese Erwachsenen. Und das war eins ihrer zahlreichen Probleme.
    Ich muss immer stur nach vorne schauen, als wollte ich mich mit jemandem treffen, den ich kenne
, sagte er sich.
Ich muss mich benehmen, als hätte ich ein klares Ziel vor Augen, dann ist es weniger wahrscheinlich, dass mich jemand anhält und wissen will, was ich vorhabe. Ich muss ziemlich schnell laufen, als wäre ich wahnsinnig in Eile und hätte Angst, dass man mich grün und blau prügelt, falls ich nicht superpünktlich zur vorgeschriebenen Zeit da bin, wo ich hinmuss.
    Es dauerte nicht lang, bis er das erste Dorf erreichte, und als er dort ankam, wurde er schon ein bisschen hungrig, weil er ja seit dem vergangenen Abend nichts mehr gegessen hatte. Aus den Fenstern der Häuser am Straßenrand wehte der Duft von Eiern mit Speck. Noah leckte sich die Lippen und schaute nach oben. In den Büchern, die er gelesen hatte, stellten die Erwachsenen oft Kuchen und Pasteten auf den Fenstersims, damit die Hitze aus den spitzen Teighüten abdampfte und heißhungrige Jungen wie er sich die Sachen im Vorübergehen schnappen konnten. Aber in diesem Dorf schien niemand so dumm zu sein. Vielleicht hatten sie auch nur nicht die gleichen Bücher gelesen wie er.
    Doch dann – was für ein Glückstreffer! Vor ihm stand ein Apfelbaum. Gerade eben war da noch kein Baum gewesen, oder jedenfalls hatte Noah ihn nicht bemerkt, aber jetzt stand er da, groß und majestätisch in der frischen Morgenluft, die Zweige schwer von glänzenden grünen Äpfeln. Noah blieb abrupt stehen und strahlte. Das war wirklich eine tolle Überraschung, denn er liebte Äpfel über alles. Seine Mutter sagte immer, er müsse aufpassen, sonst würde er sich eines Tages in einen Apfel verwandeln. (Dann stand sein Name aber
garantiert
in der Zeitung.)
    Frühstück!,
dachte er und rannte los. Aber plötzlich bewegte sich einer der Zweige ein Stück nach oben – der Zweig, der am nächsten bei ihm war – und drückte sich dichter an den Stamm, als wüsste er irgendwie, dass Noah vorhatte, ihm seine Schätze zu rauben.
    »Wie ungewöhnlich!«, murmelte Noah, überlegte kurz und nahm dann noch einmal Anlauf.
    Diesmal gab der Baum ein unüberhörbares Brummen von sich – so ähnlich wie Noahs Vater, wenn er Zeitung las und sein Sohn ihn nervte, weil er unbedingt draußen mit ihm Fußball spielen wollte. Und wenn Noah nicht gewusst hätte, dass es unmöglich war, hätte er geschworen, dass der ganze Baum ein Stück nach rechts rückte, von ihm weg, und dass sich jetzt alle Zweige fester an den Stamm schmiegten, während die Äpfel vor Angst zitterten.
    »Das kann doch gar nicht sein«, sagte Noah kopfschüttelnd. »Bäume bewegen sich nicht vom Fleck. Und Äpfel zittern nicht vor Angst.«
    Aber trotzdem – der Baum hatte sich bewegt. Ganz eindeutig. Und jetzt fing er sogar an zu reden. Was sagte er? Ein leises Stimmchen flüsterte unter der Rinde hervor …
»Nein, nein, bitte nicht, ich flehe dich an, nein, nein …«
    Also, nun reicht’s aber mit dem Quatsch
, beschloss Noah und rannte auf den Baum zu, der sofort erstarrte, als der kleine Junge die Arme um ihn schlang und drei Äpfel von den Zweigen pflückte – eins, zwei, drei. Dann ließ Noah den Baum wieder los, steckte einen Apfel in die linke Tasche, den zweiten in die rechte und biss triumphierend in den dritten Apfel.
    Der Baum bewegte sich jetzt nicht mehr. Er ließ höchstens die Zweige hängen.
    »Ich habe Hunger!«, rief Noah laut, als müsste er dem Baum seine Lage erklären. »Was soll ich machen?«
    Der Baum antwortete nicht, also zuckte Noah nur die
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