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Der Junge mit dem Herz aus Holz

Der Junge mit dem Herz aus Holz

Titel: Der Junge mit dem Herz aus Holz
Autoren: John Boyne
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Kapitel 1 Das erste Dorf
    Noah Barleywater ging frühmorgens aus dem Haus, bevor die Sonne aufging, bevor die Hunde erwachten, bevor der Tau aufhörte, die Wiesen zu benetzen.
    Er kletterte aus dem Bett und schlüpfte in die Kleider, die er am Abend vorher schon bereitgelegt hatte. Dann schlich er mit angehaltenem Atem die Treppe hinunter. Drei Stufen knarrten immer so laut, weil das Holz nicht richtig zusammengefügt war, da musste er besonders vorsichtig sein, weil er möglichst wenig Lärm machen wollte.
    Im Flur nahm er seine Jacke vom Haken, aber die Schuhe zog er erst draußen an. Er tappte den Gartenweg entlang, öffnete das Törchen, trat hinaus und schloss es wieder. Bei jedem Schritt musste er aufpassen, damit seine Eltern ja nicht hörten, wie der Kies unter seinen Füßen knirschte, und womöglich nach unten kamen, um nachzusehen, was los war.
    Es war noch dunkel um diese Zeit, und Noah kniff die Augen zusammen, um die Windungen der Straße überhaupt richtig zu sehen. Sobald es heller wurde, konnte er die Gefahren, die vielleicht irgendwo im Schatten lauerten, besser erkennen. Nach den ersten fünfhundert Metern kam er an die Stelle, wo er sich umdrehen musste, wenn er sein Elternhaus ein letztes Mal sehen wollte. Er sah, wie der Rauch aus dem Kamin aufstieg, und er dachte an seine Familie und wie sie jetzt alle warm und geborgen in ihren Betten lagen – und keiner ahnte, dass er sie für immer verließ. Und obwohl er es nicht wollte, wurde er ein bisschen traurig.
    Mache ich das Richtige?
, fragte er sich. Ein reicher Schatz glücklicher Erinnerungen versuchte, an die Oberfläche zu kommen, und wollte die neueren, traurigen Erinnerungen verdrängen.
    Aber Noah hatte keine andere Wahl. Er konnte nicht bleiben. Da durfte ihm niemand einen Vorwurf machen. Wirklich nicht. Es war auf jeden Fall das Beste, wenn er losging, um sich alleine in der Welt zurechtzufinden. Immerhin war er schon acht Jahre alt und hatte in seinem ganzen Leben noch nichts Großes geleistet.
    Ein Junge aus seiner Klasse, Charlie Charlton, war in der Lokalzeitung erwähnt worden, mit gerade mal sieben Jahren, weil die Königin gekommen war, um eine Tagesstätte für die Omas und Opas im Dorf einzuweihen. Charlie hatte die Aufgabe gehabt, ihr einen Blumenstrauß zu überreichen und zu sagen:
Wir freuen uns
sehr
, dass Sie diese Reise gemacht haben, Madam
. Ein Foto war aufgenommen worden, als er der Königin den Strauß entgegenstreckte. Auf dem Foto grinste Charlie wie die Katze aus
Alice im Wunderland
, und die Königin machte ein Gesicht, als würde sie etwas Komisches riechen, wäre aber viel zu höflich, um darüber zu sprechen. Noah hatte diesen Ausdruck schon öfter bei der Königin gesehen und musste immer kichern. Am nächsten Tag wurde das Foto in der Schule ans Anschlagbrett gepinnt und blieb dort hängen, bis irgendjemand –
nicht
Noah – der Königin einen Schnurrbart malte und lauter unanständige Wörter in eine Sprechblase kritzelte, die aus ihrem Mund herauskam. Der Rektor, Mr Tushingham, bekam fast einen Schlaganfall.
    Die ganze Sache löste einen Riesenskandal aus, aber immerhin war Charlie Charltons Gesicht in der Zeitung, und ein paar Tage lang redete man auf dem Schulhof über nichts anderes. Hatte Noah je im Leben etwas getan, was man damit vergleichen konnte? Nein, nichts. Erst vor ein paar Tagen hatte er versucht, eine Liste mit allen seinen Leistungen aufzustellen, und war zu folgendem Ergebnis gekommen:
    Ich habe vierzehn Bücher von vorn bis hinten durchgelesen.
Ich habe beim Sportfest letztes Jahr beim Fünfhundert-Meter-Lauf die Bronzemedaille gewonnen und hätte sogar Silber bekommen, wenn Tommy O’Neill nicht einen Frühstart hingelegt hätte.
Ich weiß, wie die Hauptstadt von Portugal heißt. (Sie heißt Lissabon.)
Ich bin zwar eher klein für mein Alter, aber ich bin der siebtklügste Junge in meiner Klasse.
Ich bin sehr gut in Rechtschreibung.
    Mit acht Jahren erst fünf größere Leistungen
, dachte er dann kopfschüttelnd und drückte die Bleistiftspitze an die Zunge, obwohl seine Lehrerin, Miss Bright, immer laut zeterte, wenn jemand das machte. Man würde davon eine Bleivergiftung bekommen, behauptete sie.
Das heißt, eine Leistung pro …
Er überlegte und rechnete schnell auf einem Schmierzettel nach.
Eine Leistung pro Jahr-sieben-Monate-sechs-Tage. Wirklich nicht besonders toll.
    Er versuchte sich einzureden, dass das der Grund war, weshalb er von zu Hause weglief, weil es viel
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