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Der Junge mit dem Herz aus Holz

Der Junge mit dem Herz aus Holz

Titel: Der Junge mit dem Herz aus Holz
Autoren: John Boyne
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riesigen Baum, der davor stand und ihm den Blick auf das Schild an dem Haus verstellte. Durch die Zweige konnte er nur ein paar Buchstaben erkennen – zwei C, ein H und ein I im ersten Wort, während das zweite mit SP anfing und mit N endete. Er versuchte, mit seinem Röntgenblick durch die Zweige hindurchzuspähen, bis ihm einfiel, dass er ja gar keinen Röntgenblick besaß – den hatte nur der Junge in einem seiner Bücher. Aber trotzdem, Noah wollte das Schild lesen und konnte den Blick nicht von dem Baum nehmen. Er hätte zwar nicht sagen können, warum, aber irgendwie ließ dieser Baum ihn nicht los.
    Ja, klar, er war hoch, aber auch nicht höher als viele andere Bäume, die er im Lauf seines Lebens schon gesehen hatte. (Schließlich wohnte er am Waldrand!) Sie waren alle schon Hunderte von Jahren alt, oder jedenfalls hatte man ihm das erzählt. Da war es kein Wunder, dass sie so groß wurden. Bei den Bäumen war es ja genau andersherum als bei den Menschen. Die Menschen wurden immer kleiner, je älter sie wurden. Bäume hingegen werden größer.
    Klar, der Stamm hatte eine verlockende braune Farbe und sah eher aus wie eine Tafel feine dunkle Schokolade als wie normale Rinde, aber trotzdem, es war einfach die Rinde eines guten, gesunden Baums. Also kein Grund, so fasziniert zu sein.
    Und die Blätter an den kräftigen Zweigen hatten ein sattes Grün, aber sie waren auch nicht grüner als die anderen Blätter, die an Bäumen überall auf der Welt im Sommerwind raschelten; nicht anders als die Blätter an den Bäumen, die vor seinem eigenen Zimmerfenster standen.
    Doch der Baum hatte trotzdem etwas Ungewöhnliches, das Noah allerdings nicht so recht zu fassen bekam. Etwas Hypnotisches. Etwas, wovon er ganz große Augen bekam und wovon ihm der Mund offen stehen blieb, weil er einen oder zwei Momente lang völlig vergaß, dass er eigentlich atmen sollte.
    Abb. 2 Ein seltsamer BAUM
    »Du kennst die Geschichten, nehme ich an?«, fragte da eine Stimme rechts von Noah. Er wandte sich blitzschnell um und sah einen schon etwas älteren Dackel, der auf ihn zugetrottet kam, mit einem halben Lächeln auf dem Gesicht. Der Dackel wurde begleitet von einem korpulenten Esel, der dauernd auf den Waldboden starrte, hin und her, als hätte er etwas verloren, was er jetzt verzweifelt suchte. »Ich merke immer gleich, wenn jemand kommt, um ihn anzuschauen. Du bist nicht der Erste, junger Mann. Und du wirst auch nicht der Letzte sein.
WUFF
!« Am Ende des Satzes bellte der Dackel gigantisch laut und schaute dann weg. Dabei zog er überheblich die Augenbrauen hoch, wie ein Mann, der gerade im Fahrstuhl ein unanständiges Geräusch von sich gegeben hat.
    Noah schüttelte den Kopf. »Nein, ich weiß überhaupt nichts über den Baum, Sir. Ich kenne keine einzige Geschichte über ihn. Ich bin nicht von hier, müssen Sie wissen. Ich bin nur auf der Durchreise, und da ist mir dieser Baum hier vor dem komischen Haus aufgefallen, und irgendwie interessiert er mich.«
    »Du stehst seit fast einer Stunde an derselben Stelle«, sagte der Dackel mit einem Lachen. »Hast du das gar nicht gemerkt?«
    »Du hast nicht zufällig irgendwo ein Sandwich gesehen, oder?«, mischte sich der Esel ein und fixierte Noah mit seinem Blick. »Ich habe gerüchtemäßig gehört, dass jemand hier ein Sandwich verloren hat. Mit ziemlich viel Fleisch. Und mit Mayo«, fügte er hinzu.
    »Nein, leider nicht«, sagte Noah, der sehr gern ein Sandwich gesehen hätte.
    »Ich habe solchen Appetit auf ein Sandwich!«, klagte der Esel. Er klang ganz erschöpft und schüttelte traurig den Kopf. »Vielleicht wenn ich noch ein bisschen suche …«
    »Beachte ihn am besten gar nicht«, sagte der Dackel. »Er ist dauernd hungrig. Egal, wie viel man ihm zu fressen gibt, er will immer noch mehr.«
    »Du hättest auch Hunger, wenn du seit mehr als zwanzig Minuten nichts gegessen hättest«, schniefte der Esel. Er klang ein wenig gekränkt.
    »Ist ja auch egal – auf jeden Fall stimmt es, was ich gerade gesagt habe«, fuhr der Dackel vor. »Du hast schon hier gestanden, als ich losgelaufen bin – ich laufe jeden Tag durch die Felder und bis zum Brunnen, dadurch bleibe ich in Form, weißt du –, und jetzt komme ich zurück, und du stehst immer noch hier. Und glotzt den Baum an.«
    »Ehrlich wahr?« Noah runzelte erstaunt die Stirn. »Sind Sie sicher? Ich dachte, ich bin gerade erst gekommen.«
    »Das wundert mich nicht«, sagte der Dackel. »Die Leute verlieren jedes
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