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Der Junge, der sich in Luft auflöste

Der Junge, der sich in Luft auflöste

Titel: Der Junge, der sich in Luft auflöste
Autoren: Siobhan Dowd
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ja ein anderer Ausdruck für »schwänzen«, was so viel bedeutet wie nicht zur Schule gehen, obwohl man es muss. Aber ich traute mich nicht, das zu klären, weil Mum nicht in der richtigen Stimmung war.
    Â»Sie kommt unter die Räder, und es kümmert niemanden«, sagte sie.
    Â»Ich hab in ihrem Alter auch blaugemacht«, sagte Dad. »Bin den ganzen Tag nur Bus gefahren und hab im Park gesessen und Kippen geraucht.« Ich verschluckte mich fast an meinem zwanzigsten Honigpop. Die Vorstellung von Dad mit einer Zigarette in der Hand kam mir total seltsam vor. Er raucht inzwischen gar nicht mehr. Dad klopfte Mum auf die Schulter und als sie zu ihm aufblickte, küsste er sie mitten auf die Stirn. Es gab so ein komisches piepsiges Schmatzgeräusch, von dem mir fast der Appetit auf meine restlichen Honigpops verging. »Lass uns heute Abend drüber reden, Faith. Ich muss dringend los. Die Besprechung wegen der Sprengung der Kaserne.«
    Mums Lippen hoben sich ein wenig. »Okay, Schatz. Dann später.«
    Ich sollte hier vielleicht erklären, dass Dad kein Terrorist ist, der durch die Gegend läuft und Häuser sprengt, in denen Soldaten wohnen. Er ist Abbruchexperte und »die Kaserne« war der bei uns in der Gegend übliche Ausdruck für Barrington Heights, das höchste Hochhaus in unserem südlichen Stadtteil von London. Dort haben früher Leute gelebt, die von der Gesellschaft ausgeschlossen sind. Von der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein ist so ähnlich, wie von der Schule verwiesen zu werden, bloß dass einem nicht der Rektor sagt, dass man gehen soll, sondern dass alle anderen in der Gesellschaft so tun, als ob man überhaupt nicht existiert. Dann landet man bei all den anderen, die niemand beachtet. Und man ist so wütend, weil die Gesellschaft einen so behandelt, dass man aus Rache anfängt Drogen zu nehmen und in Läden zu klauen und Banden zu gründen. Die Leute von Barrington Heights haben all das getan. Dad meinte, es sei nicht so, dass die Bewohner dort von Anfang an böse waren. Er meinte, das Gebäude sei eine Krankheit und würde die Leute ebenfalls krank machen, so ähnlich wie ein Virus. Deswegen hatten er und der Stadtrat beschlossen, alle Leute dort in neue Wohnungen umziehen zu lassen, das Haus in die Luft zu sprengen und noch mal ganz von vorne anzufangen.
    Dad zog seine Jacke an, sagte »Tschüss, Ted« zu mir und verließ das Haus. Und Mum setzte sich hin und ging den Rest der Post durch. Schließlich war der letzte Brief an der Reihe, ein blasslilafarbener Umschlag. Ich sah, wie sie ihn an ihre Nase hielt und daran schnupperte, als wäre er etwas zu essen. Dann lächelte sie. Ihre Lippen gingen steil nach oben, aber ihre Augen wurden feucht, was bedeutete, dass sie gleichzeitig traurig und glücklich war.
    Â»Du lieber Himmel«, flüsterte sie. Sie öffnete ihn und las, was drinstand. Ich aß meine letzten drei Honigpops, die Nummern fünfunddreißig bis siebenunddreißig. Mum legte das lilafarbene Blatt Papier zur Seite und wuschelte mir durch die Haare – eine Sache, die sie ab und zu macht und wovon meine Hand heftig zu schlackern beginnt.
    Â»Halt dich fest, Ted«, sagte sie. »Ein Hurrikan ist im Anmarsch.«
    Â»Nein, stimmt nicht«, sagte ich. »Ein großes Hochdruckgebiet steuert auf uns zu.« Ich bin Meteorologe oder werde mal einer sein, wenn ich groß bin. Also weiß ich Bescheid. Hurrikans fallen in sich zusammen, wenn sie mitten über dem Atlantik sind. Bis nach England schaffen sie es selten. Sogar der aus dem Jahr 1987 war technisch gesehen gar kein Hurrikan. Der Wettermann namens Michael Fish, der für seine falschen Vorhersagen berühmt ist, hatte wirklich Recht. Es handelte sichbloß um einen heftigen Sturm und der hatte keinen Namen. Ein echter Hurrikan bekommt immer einen Namen. Wie Hannah, die 1957 bis zu 260 Stundenkilometer schnell stürmte, oder Hugo, der 1989 in den USA halb South Carolina plattmachte. Oder der Hurrikan Katrina, ein Sturm der Windstärke fünf, der 2005 New Orleans verwüstete. (Es ist ganz bestimmt kein Zufall, dass einer der verheerendsten Stürme aller Zeiten denselben Namen trägt wie meine Schwester.)
    Â»Ich hab’s doch nicht wortwörtlich gemeint«, sagte Mum und zog mir meine leere Honigpopschale unter der Nase weg. »Hurrikan Gloria ist unterwegs zu uns. Meine Schwester. Erinnerst du
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