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Der Junge, der sich in Luft auflöste

Der Junge, der sich in Luft auflöste

Titel: Der Junge, der sich in Luft auflöste
Autoren: Siobhan Dowd
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Bügelbrett schlafen zu können. Darüber mussten Kat, Dad und Mum lachen. Meine Hand begann zu schlackern und mir kroch ein unangenehmes Gefühl die Speiseröhre rauf. Ich war wieder mal erwischt worden. Wie damals, als ich wissen wollte, warum Fußballer trotz Abschaffung der Sklaverei noch wie Sklaven gehalten würden, nachdem ein Nachrichtensprecher verkündet hatte, dass ein Star von Manchester United für zwölf Millionen Pfund an einen anderen Verein verkauft worden war.
    Als sie damit fertig waren, mich auszulachen, fragte Dad, ob wir unbedingt zusagen müssten, und Mum meinte, ja, das müssten wir. Kat fragte, wer wo schlafen würde. Mum sagte, Tante Gloria müsste Kats Zimmer bekommen, und Kat sagte, das käme überhaupt nicht in Frage. Worauf Mum meinte, sie müsste sich einfach damit abfinden und es geschehe ihr nurrecht, weil es einem Mädchen, das die Schule schwänzt, nämlich nicht zusteht viel Theater zu machen, wenn sie mal ein oder zwei Nächte auf der Couch schlafen muss.
    Kat verschränkte die Arme und saugte die Lippen unter die Zähne.
    Â»Und was ist mit Salim?«, fragte ich und schielte zum Bügelbrett hinüber, das an der Küchenwand lehnte.
    Â»Er schläft bei dir, Ted. Wir können die Luftmatratze aufpumpen.«
    Ich warf einen Blick zu Kat hinüber und sah an der Art, wie sie ihr Gesicht verzog, dass sie wütend war. Ich war nicht wütend, sondern merkte, dass ich plötzlich schlimme Bauchschmerzen bekam. Das lag an der Vorstellung, dass ein fremder Junge nachts in mein Zimmer kommen würde. Dass ich im Dunkeln seinen Atem hören würde, er zusehen konnte, wie ich meinen Schlafanzug anzog, und dass ich nachts nicht den Seewetterbericht im Radio hören durfte, was ich immer tue, wenn ich nicht schlafen kann.
    Â»O-o-o-o-o-o-oh«, sagte ich, und meine Hand schlackerte.
    Â»Ganz genau«, sagte Kat. »Verdammt o-o-o-o-o-o-oh!«
    Â»Ihr werdet doch nur wieder streiten«, sagte Dad zu Mum. Er klang wie ein Wettermann, der einen wirklich schlimmen Sturm prophezeit. Ich hab im Wörterbuch nach dem richtigen Ausdruck dafür gesucht, und er lautet »hämisch«.
    Â»Nein, werden wir nicht«, sagte Mum. »Weil ich es nicht zulassen werde. Diesmal nicht. Jedes Mal, wenn sie irgendetwas Ärgerliches sagt, hole ich einfach tief Luft und meditiere imGeiste über die Form einer Teekanne. Und weil sie genau dasselbe tun wird, werden wir gut miteinander auskommen.«
    Ich versuchte im Geiste über die Form einer Teekanne zu meditieren, aber ich sah nur vor mir, wie heißes Wasser vorne aus der Tülle schwappte und wie es auf mich zugeschossen kam wie eine kochend heiße Tsunamiwelle. Was genau dem Gefühl entsprach, das die Aussicht auf Tante Glorias Besuch und Salims Übernachtung in meinem Zimmer in mir auslöste. Ein echter Hurrikan wäre mir viel lieber gewesen.

4
    Der Hurrikan trifft ein
    Tante Gloria und Salim kamen am Sonntag, dem 23. Mai abends um 18.24 Uhr, kurz vor Beginn der einwöchigen Halbjahrsferien. Es war ein schöner Tag mit vereinzelten Regenschauern, die nach Nordosten weiterzogen. Kat und ich sahen, wie ein schwarzes Londoner Taxi vor unserem Haus hielt. Tante Gloria stieg zuerst aus. Sie war groß und dünn, mit glatten schwarzen Haaren, die ihr bis zu den Schultern gingen. (Kat sagt, diese Frisur nennt man Bubikopf.) Sie trug enge Jeans und dunkelrosafarbene Sandalen. Man musste die ganze Zeit auf ihre beiden großen Zehen gucken, die vorne rausguckten, weil sie passend zu den Sandalen dunkelrosa lackiert waren und total leuchteten. Aber was mir am meisten auffiel, war der Zigarettenhalter in ihrer Hand. Vorn steckte eine lange, dünne, brennende Zigarette, von der ein Rauchfaden aufstieg.
    Kat meinte, Tante Gloria sehe wie eine Moderedakteurin aus. Obwohl Kat bisher noch keiner Moderedakteurin begegnet ist, deswegen weiß ich nicht, wie sie darauf kommt.
    Salim war groß und dünn und hatte ebenfalls Jeans an, genau wie seine Mutter. Er trug einen ganz gewöhnlichen Rucksack und zog Tante Glorias Koffer auf Rollen hinter sich her. Sein schwarzes Haar war kurz geschnitten und seine Haut war braun. Kat sagt, sie war nicht einfach braun, sondern wie Karamell. Sie meint, ich solle erwähnen, dass er äußerst gut aussehend war. Sie macht sich dauernd Gedanken darum, ob Leute gut aussehen oder nicht. Ich denke, Leute sehen eben so aus,
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