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Der Janson-Befehl

Titel: Der Janson-Befehl
Autoren: Robert Ludlum
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zu können. Im 17. Jahrhundert wurde zum ersten Mal eine Festung auf dem Hügel errichtet, und als die Anlage dann im Laufe der darauf folgenden Jahrhunderte mehrfach umgebaut worden war, hatte man den kleinen Gotteshäusern in der Nähe nur wenig Beachtung geschenkt. Jetzt würden sie der Armee des Propheten beim entscheidenden letzten Angriff als Zwischenstation dienen.
    Normalerweise durfte ihr Anführer, der Mann, den sie den Kalifen nannten, unter keinen Umständen den Unwägbarkeiten und dem Chaos einer bewaffneten Auseinandersetzung ausgesetzt sein. Aber dies war keine gewöhnliche Nacht. Dies war eine Nacht, in der Geschichte geschrieben wurde. Wie konnte da der Kalif nicht zugegen sein? Außerdem wusste er, dass er die Moral seiner Männer mit seiner Entscheidung, sich auf dem Schlachtfeld zu ihnen zu gesellen, ins Unermessliche gesteigert hatte. Er war von tapferen, unerschrockenen Kagama umgeben, die wollten, dass er Zeuge ihres Heldentums wurde oder, sollte es dazu kommen, auch ihres Märtyrertodes. Sie sahen sein kantiges Gesicht, seine fein gemeißelten ebenholzschwarzen Züge und sein kräftiges Kinn und sahen nicht nur den Mann, den der Prophet gesandt hatte, um sie in die Freiheit zu führen, sondern auch den Mann, der ihre Taten für die Nachwelt in das Buch des Lebens schreiben würde.
    Und so hielt der Kalif mit seiner Leibwache auf einer sorgfältig ausgewählten Hügelkuppe Wacht. Der Boden unter seinen dünnsohligen Stiefeln war hart und feucht, aber der Steinpalast - oder genauer gesagt sein Haupteingang - leuchtete vor ihm. Die Ostmauer war eine gewaltige Kalksteinfläche, deren verwitterte Steinquader zusammen mit dem breiten, frisch getünchten Tor von im Boden vergrabenen Strahlern in helles Licht getaucht wurden. Der Palast schimmerte verlockend, winkte ihnen zu.
    »Ihr oder eure Gefolgsleute werdet möglicherweise heute Nacht sterben«, hatte der Kalif den Angehörigen seines Kommandos vor Stunden erklärt. »Falls es dazu kommt, wird man sich an euren Märtyrertod erinnern - in alle Ewigkeit! Eure Kinder und eure Eltern wird man euretwegen wie Heilige verehren. Man wird euch Schreine errichten! Pilger werden an die Orte eurer Geburt reisen! Man wird sich an euch erinnern wie an die Väter unserer Nation, wird euch verehren - von jetzt an bis in alle Ewigkeit.«
    Sie waren Männer des Glaubens und des Mutes, und dem Westen gefiel es, sie als Terroristen zu verabscheuen.
    Terroristen! Für den Westen, die Quelle äußersten Schreckens auf der Welt, ein Begriff zynischer Bequemlichkeit. Der Kalif verachtete die Tyrannen von Anura, aber den Männern des Westens, die ihre Herrschaft erst ermöglicht hatten, galt sein unverfälschter, glühender Hass. Die Anuraner verstanden wenigstens, dass sie einen Preis dafür zahlen mussten, dass sie sich die Macht angemaßt hatten; die Rebellen hatten sie diese Lektion immer wieder gelehrt, hatten sie mit Blut geschrieben.
    Aber die Westler waren es gewöhnt, ungestraft zu handeln. Doch das würde sich bald ändern.
    Jetzt musterte der Kalif die Hügellandschaft, die ihn umgab, und verspürte Hoffnung - Hoffnung nicht nur für sich und seine Gefolgsleute, sondern auch für die Insel. Anura. Sobald sie erst einmal ihr Schicksal wieder in die eigene Hand genommen hatte, gab es da noch etwas, wozu diese Insel und die Menschen, die auf ihr lebten, nicht fähig sein würden? Die Felsbrocken rings um ihn, die Bäume und die mit dichten Lianen überzogenen Hügel schienen ihn zum Handeln zu drängen.
    Mutter Anura würde ihren Beschützern Nachsicht gewähren.
    Vor Jahrhunderten hatten Besucher mit poetischen Worten die Schönheit der Tier- und Pflanzenwelt der Insel gepriesen. Wenig später sollte der Kolonialismus, angetrieben von Neid und Habgier, seine düstere Logik zur Wirkung bringen: Alles was bezaubernd war, sollte entzaubert, Schönheit, die den Beschauer in ihren Bann zog, in Ketten gelegt werden. Anura wurde zu einem Preis, um den die großen Seemächte des Westens sich stritten. Befestigungsanlagen türmten sich über den duftenden Hainen; Kanonenkugeln lagerten zwischen Muschelschalen an den Stranden. Der Westen brachte Blutvergießen auf die Insel und schlug dort Wurzeln, verbreitete sich wie ein giftiges Unkraut über die Landschaft, nährte sich von Ungerechtigkeit und Gemeinheit.
    Was haben sie dir angetan, Mutter Anura?
    Bei Tee und Gebäck zogen westliche Diplomaten Grenzlinien, die Unruhe in das Leben von Millionen bringen sollten,
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