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Der Jakobsweg

Der Jakobsweg

Titel: Der Jakobsweg
Autoren: Carmen Rohrbach
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Jakobsgrab initiiert. Architektur, Bildhauerei, Literatur, Malerei, Musik, aber auch Wirtschaft und Politik des Abendlandes entwickelten sich zu ihrer heutigen Form und Ausprägung unter dem Einfluß des Pilgerweges. Ohne ihn wäre Europa ganz gewiß anders, als es heute ist.
    Ich saß lange auf einer Parkbank im Herradura-Park. Die Sonne, die die Türme, Kirchen, Klöster und Paläste vergoldet hatte, ist längst untergegangen. Es ist dunkel geworden. Schwarz heben sich die Silhouetten der Türme gegen den Nachthimmel ab. Morgen früh werde ich bereits unterwegs sein, nach Finisterre, dem Ende der Welt, meinem allerletzten Ziel. Es beginnt leise zu regnen. Die Stille wird von den klaren, weithin schwingenden Glockentönen der Kathedrale durchdrungen.
     

27 Finisterre
     
    Es ist schön, wieder unterwegs zu sein. Von Santiago de Compostela hatte ich Abschied genommen. Eine wichtige Erfahrung für mich, doch konnte sie nicht der Anschluß meiner Pilgerreise sein. Ich glaube, erst wenn ich das »Ende der Welt«, Finisterre, erreiche, wird sich mein Unterwegssein wirklich mit Sinn erfüllen. Ich denke darüber nach, was die Bezeichnung »Ende der Welt« für mich bedeutet. Es klingt nach absolutem Ende: Ende der Welt - Ende des Lebens. Das ist aber für mich keine schreckliche Vorstellung. Nicht mehr als Lebewesen existent zu sein, ist für mich ein befreiender Gedanke. Die Auflösung ist eine Erlösung von der Verantwortung als Individuum. Meine Substanz als Einzelwesen kann sich dann überallhin verteilen, in alles einfließen, wieder dem Gesamten angehören. Aber solange ich lebe, will ich so individuell sein, wie es nur mir allein möglich ist. Ich will meinen Weg gehen, der mein ist und nur der meine sein kann. Unterwegs auf meinem Lebensweg möchte ich Menschen begegnen, aber ich kann niemandem folgen und will keinem erlauben, mir zu folgen. Vor meiner Pilgerschaft hatte ich mich noch gegen diese Bestimmung gesträubt. Ich bin mir unterwegs immer sicherer geworden, daß ich allein leben muß und will.
    Die ersten Kilometer, die ich mich von Santiago de Compostela entfernte, waren eigenartig. Da war ich Tag für Tag von den Pyrenäen nach Westen gewandert, mit dem Namen einer Stadt im Bewußtsein, und die Menschen am Wegesrand wünschten mir: »Suerte por el camino a Santiago de Compostela!« Und nun pilgere ich weiter, aber Santiago - Santiago liegt jetzt nicht westwärts von mir, sondern im Osten hinter mir. Da ist kein Weg mehr, der als Pilgerweg anerkannt ist, sondern ich habe die Wahl zwischen verschiedenen Pfaden. Mit Karte und Kompaß muß ich einen Weg durch die Landschaft suchen. Keine anderen Pilger und keine refugios. Ich bin nicht mehr ein Teil der großen Pilgerbewegung, sondern allein auf einem Weg, den ich nur gehe. Zunächst fühle ich mich sehr einsam.
    Heißt das überhaupt noch »pilgern«? Jetzt wandere ich doch nur noch einen beliebigen Weg entlang. Dann erinnere ich mich an die Worte des Pfarrers Rafael. Hatte er nicht gesagt, daß im Mittelalter viele Menschen bis Finisterre pilgerten? Und allmählich, während ich dem Meer entgegengehe, fühle ich mich wieder verbunden mit den Schatten der Vergangenheit.
    Ich wähle nicht die Strecke nach Noya, die direkt ans Meer und dann auf einer gewundenen Küstenstraße entlang bis zum Kap führt, sondern ich suche meinen Weg durch das Küstengebirge.
    Eine Landschaft von berauschender Schönheit! Mit jedem Schritt fühle ich mich leichter und freier.
    Ich bin noch weit entfernt vom Meer, etwa achtzig Kilometer, und doch vermeine ich, den Seewind bereits zu spüren, da ist der Geruch von Tang und Salz. Die Luft ist frisch und kühl.
    Die Landschaft ist in tafelebene Hochflächen und tiefe Taleinschnitte gegliedert. Mal laufe ich über die steinigen Berge, die mit Ginster, Fingerhut und Heide geschmückt sind, dann wieder steige ich hinab in die grünen Täler, an deren Grund klares Wasser fließt.
    Eingebettet in die Natur kleine Dorfflecken. Dicht bei den Häusern gartenkleine Felder. In gelben, braunen und grünen Schattierungen mustern sie die Talhänge. Menschen arbeiten auf den Feldern. Vom gegenüberliegenden Hang schaue ich auf die andere Talseite hinüber, wie auf ein Bauerngemälde von Brueghel. Da bündeln Frauen mit breiten Strohhüten auf dem Kopf das Korn. Schnitter schwingen die Sense. Andere lagern im Schatten unter einem Baum. Eine Frau treibt schwarze und braune Kühe mit einer Gerte den Weg entlang. Eine zweite, ganz in Schwarz
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