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Der Jakobsweg

Der Jakobsweg

Titel: Der Jakobsweg
Autoren: Carmen Rohrbach
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gekleidet, balanciert ein Bündel Blätter auf dem Kopf. Dort mäht ein Mann Gras. Einige Leute wenden das Heu und schichten es zu Haufen auf. Ein alter Mann transportiert in einer Schubkarre Steine, die er vom Feld aufgelesen hat, und Kinder zupfen zwischen den Anpflanzungen Unkraut heraus. Tätige Menschen überall; Familien, die säen, was sie zum Leben benötigen, und Nachbarn, die sich gegenseitig helfen. Ich habe das Gefühl, einen Blick rückwärts zu tun, in eine Zeit, als die Menschen mit ihren Händen erarbeiteten, was sie zum Essen brauchten, in eine Zeit, als es noch keine Maschinen gab. Würde ich so leben wollen? Ich könnte auf Dauer keine Lebenserfüllung darin sehen, tagein, tagaus zu arbeiten, nur damit ich zu essen habe. Wenn ich in so einen Zeitraum hineingeboren worden wäre, dann würde ich in jedem Dorf eine Weile bleiben, mir meinen Lebensunterhalt verdienen und dann weiterziehen. Sobald alle Vorräte aufgebraucht wären und ich wieder Hunger hätte, würde ich mich auf dem nächsten Bauernhof verdingen, und so durch die Welt wandernd Erfahrungen sammeln. Es ist immer nur ein einziges Lebenskonzept, das ich mir ausmale. Meine Vorstellung sträubt sich gegen eine seßhafte Lebensweise, gegen Dauer und Beständigkeit.
    Die Menschen in dieser Gegend sind mir gegenüber verschlossen. Auf dem Pilgerweg war ich keine Fremde, sondern ein Mitglied des großen Pilgerstromes. Dort nahmen die Bauern Anteil mit guten Wünschen. Sie grüßten mich zuerst, stellten Fragen und gewährten mir Gastfreundschaft. Jetzt bin ich eine, die nicht mehr dazugehört. Wenn ich die Leute grüße mit »Guten Tag«, antworten sie »Auf Wiedersehen«. Sie stellen keine Fragen, beginnen kein Gespräch. Da ich als Fremde durch ihr Gebiet laufe, empfinden sie mich als Eindringling. Nur wenn ich länger bleiben würde, könnte ich wohl langsam ihr Vertrauen erwerben.
    Die Nächte verbringe ich oben auf den trockenen Hochflächen. Zweimal übernachte ich zwischen Ginster und Heidekraut. Dabei habe ich immer dieses Gefühl der Sicherheit und der Geborgenheit in der Natur. Solange ich mich ihr einfüge, schützt sie mich. Befinde ich mich in einer menschenleeren Gegend, muß ich nicht überlegen, wie ich handeln soll. Das ergibt sich von selbst. Das Leben in der Natur ist eindeutig. Es gibt keine Zweifel, keine Mißverständnisse, keine Heuchelei, keine Lügen und keine Liebe. Denn kein Lebewesen - keine Pflanze, kein Tier, kein Mensch - ist wichtig als Individuum, aber sie alle haben teil an dem großen, nicht sinnbezogenen Kreislauf des Entstehens und Wiedervergehens. Wenn ich in der Natur bin, vergesse ich, die Sinnfrage zu stellen. Die Natur wertet nicht, sie kennt weder gut noch schlecht, sie schützt nicht das Schöne und bestraft nicht das Häßliche, sie ist nicht gerecht, aber auch nicht ungerecht. Wer seine menschliche Vorstellung auf die Natur anwenden will, kann nichts verstehen. Der naturentfremdete Mensch verherrlicht sie: Es entsteht ein sentimentales Naturgefühl von der edlen und reinen, der gütigen und lebenspendenden Mutter Erde. Lernt er sie dann hautnah kennen, erfährt er die Urgewalt der Natur. Sogleich verwandelt sie sich in seiner Vorstellung in ein grausames Ungeheuer, in die brutale, alles Schwache vernichtende Gewalt, in einen furchtbaren, lebensverschlingenden Schlund. Weil der Mensch sich von der Natur entfernt hat, mystifiziert er sie. Weil er selbst urteilt und verurteilt, unterstellt ihr er einen Sinngehalt, den sie doch niemals haben kann.
    So wie ich nirgendwo lange bleiben kann, möchte ich mich auch nicht zeitlebens nur in menschenlosen Gebieten aufhalten. Ich fühle mich wie ein Wanderer zwischen den Welten. In der Natur laden sich meine Lebensbatterien auf. Dann nach einiger Zeit wird mir langweilig. Ich gehe wieder zu den Menschen, zu den Widersprüchen und Vergeblichkeiten. Das Dasein dort kommt mir vor wie auf der Bühne, jeder sucht sich eine Rolle, sie warten auf den Regisseur und weil keiner erscheint, spielen sie schon mal los, dann fesselt sie das Spiel, sie vergessen den Regisseur und daß sie eigentlich nur eine Rolle spielen. Es macht mir Spaß, auf dieser Lebensbühne zu spielen, es ist unterhaltsam und abwechslungsreich. Wenn ich in einem traurigen Stück mitspiele, vergesse ich, daß das Leben ein Theater ist. Dann bin ich wirklich zu Tode verzweifelt. Erst wenn ich in den tiefen Abgrund gestürzt bin, fällt mir wieder ein, daß es nur Theater ist, dann erlebe ich die
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