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Der Jakobsweg

Der Jakobsweg

Titel: Der Jakobsweg
Autoren: Carmen Rohrbach
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lustvollsten Momente meines Lebensspiels.
    Am Nachmittag des dritten Tages höre ich den Schrei einer Möwe. Der Geruch von Tang und Algen war immer intensiver geworden. Ein Pinienwald - dann Blau! Blau - das Wasser, blau - der Himmel. Ich stehe auf der äußersten Spitze der schwarzen Granitfelsen, weiß schlagen die Wellen an den Fels, weiß die schreienden Möwen, und blau die wellenbewegte Fläche bis zum Horizont. Finisterre! Ende der Welt! Mir ist plötzlich, als wäre ich schon öfter hier gewesen, zu anderen Zeiten, in anderer Gestalt. Der Wind weht mein Haar durcheinander, bläst es mir ins Gesicht und biegt es seitwärts zu einer blonden Fahne. War es nicht einstmals schwarz gewesen? In meiner Vorstellung sehe ich lange, schwarze Flechten im Winde flattern, sie ändern sich, werden heller, bekommen einen brauen Farbton, dann flammt es rot im Sonnenlicht, um sich schließlich in altersweises Grau umzufärben. Oft war ich schon hier gewesen, in vielerlei Gestalt. Mein Finisterre! Nun bin ich da, am Ende meiner Pilgerreise.
    Durch Gestrüpp und Klippen steige ich hinunter zur Wasserkante. Ich ziehe mich aus und schwimme ins Meer hinaus. Das Wasser ist kalt. Es umfängt meinen Körper gewaltsam, so daß mir zuerst der Atem stockt. Allmählich paßt sich meine Körpertemperatur an. Wie schön, ein Mensch zu sein!
    Später suche ich mir in den Felsen eine ebene Fläche zum Schlafen. Die Sonne senkt sich nach Westen, dort, wo Amerika liegt. Das Ende der Welt ist nicht hier, es ist nirgendwo.
    Ich breite die Arme aus und grüße die Elemente: Das Meer vor allem, den Wind, die Sonne, die Steine. Ich bin glücklich mit dem Gedanken, daß es für mich nirgendwo einen Platz auf der Erde gibt, denn das bedeutet, ich bin überall zu Hause. Ich schlafe ein, gewiegt von den Geräuschen der Wellen und wache wieder auf, als der Himmel sich rötet. Zum Abschied schwimme ich nochmals im Meer. Der Wind trocknet meine nackte Haut. Nun bin ich angekommen und gehe wieder, neue Wege, neue Ziele zu suchen. Ich weiß, sie sind nicht eigentlich neu, es bleiben immer die gleichen. Das Leben ist eine ständige Weiterbewegung, die doch nirgendwo hinführt. Ich sehe die Wellen. Weiß schäumen sie auf, wenn sie an die schwarzen Felsen schlagen, dann schwingen sie zurück, um sich von neuem zu krümmen; es sind immer die gleichen Wellen, aber immer andere, immer neue. Realität und Traum. Wirklichkeit und Wunschvorstellung. Ich könnte nicht leben ohne das eine und das andere. Ich brauche die Welt, wie sie wirklich ist und wie ich sie mir ausdenke. Ich muß unterwegs sein, nicht um anzukommen, sondern um immer wieder neu mich selbst zu finden und zu erfinden.
    Das Meer, es dringt in mich ein, ich nehme seine Farbe auf, seinen Geruch und das Geräusch der Brandungswellen. Ich habe Zeit, alle Zeit des Lebens.
    Ich finde mich wieder in dem Ort Finisterre, an der Bucht gelegen, bevor das Kap ins Meer stößt. Ich sitze auf einer Bank, beschattet von den Bäumen des Platzes. Es ist der 40. Tag meines Unterwegsseins, ein Sonnabend. Der Platz wird von den Bewohnern des Ortes in ihr Leben einbezogen, so kann ich als Fremde beobachtend teilnehmen. Da sitzen auf der Bank gegenüber zwei Kinder. Der Junge bemüht sich, dem Mädchen das Lesen beizubringen. Sie hat keine Lust und zieht einen Schmollmund. Geduldig ermahnt er die Kleine. Sie gehorcht, folgt seinem Finger und buchstabiert mühselig, dann huschen ihre Augen wieder hinüber zu den ballspielenden Kindern. Unter denen fällt mir ein Mädchen auf! Sie gibt den anderen Anweisungen, kommandiert sie herum. Niemand murrt. Sie gehorchen widerspruchslos ihren Befehlen. Das selbstbewußte Kind hat abstehende schwarze Zöpfe, zusammengerollte Socken und ein pfiffiges, aufgewecktes Gesicht - eine spanische Pippi Langstrumpf. Ein alter Mann sitzt auf der Bank neben mir. Er liest Zeitung. Ein Mütterchen mit geblümter Kittelschürze, grauem Dutt und einem Strohkörbchen am Arm schlurft zu ihm und schreit ihm ins Ohr, daß die Worte über den Platz hallen. Eine Frau in einem hellblauen Kleid faßt die schwarzzöpfige Pippi Langstrumpf an der Hand und führt sie in ein Haus. Eine Tür öffnet sich, und heraus kommt ein kleiner Junge. Der Dreikäsehoch umklammert einen Fußball. Er legt ihn auf den Boden und schießt ihn vor sich her, dabei verliert er selbst fast das Gleichgewicht. Jetzt hat er den alten Mann mit der Zeitung zum Mitspielen auserkoren. Der läßt sich erweichen und schießt den Ball
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