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Der Jade-Pavillon

Der Jade-Pavillon

Titel: Der Jade-Pavillon
Autoren: Heinz G. Konsalik
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sagte dann: »Das kann ich dir mit ein paar Worten nicht erklären. Die Ärzte nennen es Chiropraktik, eine Heilmethode, bei der man eine gute Handgrifftechnik beherrschen muß. Durch Verschiebung der Wirbel gegeneinander kommt es oft zu Einklemmungen im Zwischenwirbelbereich der Wirbelsäule. Dadurch können Nerven abgequetscht werden, die das Gehen, wie bei diesem Mann, unmöglich machen. Das ganze Geheimnis der Behandlung ist, mit dem richtigen Griff es dahin zu bringen, daß die Wirbel wieder richtig liegen und die Nerven vom Druck befreit sind.«
    Peihui nickte, nahm ihm das leere Bierglas ab und sagte: »Du bist ein großer, ganz großer Arzt. Und ich bin glücklich und stolz, deine Frau zu sein.«
    »Der nächste! Der nächste!« Jeder, der wieder herauskam, war ein Mensch, dem man seine Last genommen hatte. Nur einem Kranken konnte Jintao nur Linderung verschaffen, mehr nicht. »Er hat, wenn ich mich nicht täusche, Pankreas-Krebs. Der Krebs hat ihn so aufgefressen, daß er nur noch ein Gerippe ist. Ich kann ihm nur die Schmerzen lindern.«
    »Und wenn du ihn nach Kunming bringst zum Operieren?«
    »Zu spät und aussichtslos. Ihn macht kein Chirurg mehr auf. Ich täte es auch nicht. Oder ich täte es nur, um seine Leiden zu verkürzen. Ein Krebs, der einmal Luft geatmet hat, wird von einem schleichenden zu einem wilden Tier.«
    »Weiß er, daß er bald sterben wird?«
    »Ich habe es ihm gesagt.«
    »Und was hat er geantwortet?«
    »›Ich danke Ihnen, Meister. Wenn Sie es sagen, muß es so sein.‹ Und dann hat er mir die Hand geküßt.«
    Peihui schwieg einen Augenblick, dann sah sie Jintao an. »Wie fühlst du dich in einem solchen Augenblick?«
    »Beschissen!« antwortete Jintao ganz unheilig und wusch sich im Wasserzuber wieder die Hände. »Wie klein ist oft der Schritt vom Leben in den Tod.«
    An der Tür erschien Liu und hob den Daumen. »Noch einer!« rief er. »Der letzte. Wissen Sie, Meister, wie lange Sie heute behandelt haben?«
    »Was geht mich die Zeit an, Liu?«
    »Zehn Stunden! Es wird Nacht sein, wenn wir in Dali eintreffen.«
    »Zehn Stunden.« Jintao warf einen Blick zu Peihui. »Ist das möglich?«
    »Ich habe sie nicht gespürt.«
    »Dann laß den letzten kommen«, sagte Jintao, und Liu verschwand nach draußen.
    Der letzte Patient lehnte an der Treppenwand, ein alter Mann mit einem schütteren langen Bart. Er hatte eine Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen, denn die Abendsonne schien noch sehr hell. »Du kannst mit deinem Bus zurückfahren«, sagte er zu Liu. »Ich bleibe hier.«
    »Genosse, Sie haben die Rückfahrt bezahlt.«
    »Ich schenke dir das Geld. Fahr ab.«
    »Wie wollen Sie im voraus wissen, daß der Meister Sie dabehalten wird? Er hat noch nie einen Kranken bei sich behalten.«
    »Ich weiß, daß ich hier bleiben werde.«
    »Wenn ich mit dem Bus weg bin, bringt Sie keiner mehr nach Dali.«
    »Das sei nicht deine Sorge, Liu. Nimm die Kranken und fahr.«
    Liu zuckte die Schultern, sah den Alten an und dachte, daß sein Geist verwirrt sei. Dann stieg er die Steintreppe hinunter und schrie der Menge zu: »Einsteigen, Leute! Einsteigen! Wir haben es hinter uns! Der Meister läßt noch einmal jeden grüßen.«
    Der zurückgebliebene alte Mann stieg die letzten Stufen hinauf und betrat dann den Innenhof. Er blieb im Schatten der von Kamelien überwucherten Mauer stehen und blickte zu Deng Jintao und Hao Peihui hinüber. Jintao saß wieder auf seinem hochlehnigen Stuhl, wie ein Kaiser auf seinem Thron. In der rechten Hand drehte er die tibetische Gebetsmühle. »Kommen Sie näher und schildern Sie mir Ihre Leiden«, sagte er. »Wenn es Hilfe gibt, sollen Sie sie bekommen.«
    Der alte Mann trat einen Schritt näher, aber sein Gesicht lag noch im Schatten der Mauer. Etwas Geheimnisvolles ging von ihm aus; Jintao spürte es und zog die Schultern hoch. »Es ist schon spät«, sagte er. »Die anderen wollen nach Dali zurück. Kommen Sie zu mir! Ihre Sorgen sind auch meine Sorgen.«
    »Ich bleibe«, sagte der alte Mann plötzlich, und seine Stimme klang jünger, als sein Äußeres vermuten ließ. Dann trat er aus dem Schatten und nahm seine Mütze ab. »Befreit euch von euren Masken. Bei mir habt ihr sie nicht nötig.«
    Jintao fuhr von seinem Stuhl hoch, riß sich die spitze Lamamütze vom Kopf und rief: »Onkel Zhang!«
    Sie stürzten aufeinander zu und umarmten sich. Peihui streifte die Gummimaske der uralten Frau von ihrem Gesicht, und Jintao griff mit beiden Händen an die seine und
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