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Der Jade-Pavillon

Der Jade-Pavillon

Titel: Der Jade-Pavillon
Autoren: Heinz G. Konsalik
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mehr.«
    »Die Krankheiten kennen keine Zahl. Sie fallen über die Menschen her, und keiner kann sich wehren. Sie kommen mit dem Wind, regnen aus den Wolken, wirbeln im Staub …«
    »Erklär mir nicht, was Krankheit ist!« sagte Peihui. Sie streckte ihre Hand aus, über die sie einen mit Gold- und Silberfäden bestickten Handschuh gezogen hatte. »Wie hoch war heute die Sondergebühr?«
    »Ich kann Ihnen hundertfünfzig Yuan geben.«
    »Halunke! Wieviel hast du eingenommen? Willst du den großen Meister betrügen?«
    »Es können auch hundertneunzig Yuan sein«, stotterte Liu verlegen. Er griff in seine Hosentasche, holte die zerknitterten Scheine heraus, zählte hundertneunzig Yuan ab und drückte sie in Peihuis hingestreckte Hand. Sie nickte und schlurfte ins Haus, in den kleinen Versammlungssaal, in dem Deng Jintao an einem geschnitzten Rosenholztisch saß und wartete.
    Peihui legte die Yuan-Scheine auf den Tisch. »Es sind sechsundsiebzig Kranke«, sagte sie mit einer veränderten, frischen Stimme. »Und hundertneunzig Yuan sind unser Anteil.«
    Jintao berührte das Geld nicht, sein ledernes Gesicht mit den langen, grauen, wenigen Barthaaren blieb unbewegt. »Es ist unter unserer Würde, als Priester Geld von den Gebrechlichen zu fordern. Es ist nicht richtig, was du tust.«
    »Es gibt keinen Arzt, der umsonst behandelt. Kennst du einen?«
    »Ich bin für die Kranken nicht nur ein Arzt, ich bin auch ein Heiliger.«
    »Um so lieber opfern sie. Auch ein Heiliger muß leben.«
    »Wir werden nie Hungers sterben.«
    »Das Essen allein füllt nicht ein Leben aus.« Sie schob die Yuan-Scheine zusammen, ging zu einem bemalten Schrein, öffnete ihn und schloß das Geld ein. »Weißt du, wieviel ich schon gespart habe?«
    »Es muß viel sein.«
    »Genug, um Pläne in die Tat umzusetzen. Ich werde Liu sagen, daß er seine Krankenfahrten nach Lijiang zweimal in der Woche macht. Auch Chen ist sehr zufrieden.«
    Deng Jintao, der Wunderheiler, erhob sich seufzend, zog sein blaßrotes Gewand zurecht und setzte die aus Yakwolle gestrickte und mit goldenen Bändern verzierte spitze Lamamütze auf seine weißen Haare. An den Rändern quollen sie hervor, als sei sein Kopf mit ewigem Schnee umhüllt wie der mächtige Gipfel des Jadedrachen-Bergs über ihnen. »Fangen wir an«, sagte er. »Sind Schwerkranke dabei?«
    »Ich glaube nicht, daß Liu sie mitnehmen würde.«
    »Das ist es, was mich bedrückt.« Jintao nahm seine Gebetsmühle und ging zur Tür. »Wer meine Hilfe wirklich braucht, dem kann nicht geholfen werden. Die leichten Fälle kann jeder Barfußarzt behandeln.«
    Er trat in den Innenhof hinaus, und Liu verbeugte sich tief. Jedesmal, wenn er Deng Jintao sah, lief ihm ein Schauer über den Rücken, denn das Wissen dieses alterslosen Mannes mußte Tag für Tag vom Himmel gespeist werden, sonst gab es keine Erklärung für die Macht seines Geistes und seiner heilenden Hände.
    »Führe die Kranken zu mir, Liu«, sagte Jintao mit einer tiefen Stimme, als komme sie aus dem Inneren eines Berges. »Wie fühlst du dich selbst?«
    »Gut, Meister. Sie haben mir vor einem Jahr ein neues Leben gegeben.«
    »Ich habe dir nur die Opiumpfeife weggenommen, die dich auszehrte.«
    »Das war eine große Tat. Damit haben Sie mein Leben gerettet. Ich vergesse nie, wie Sie mich mit einem Nußstock verprügelt haben. Das war besser als jede Medizin.«
    »Und jetzt bist du durch mich ein wohlhabender Mann.«
    Liu verzog das Gesicht und legte beide Hände vor die Brust. »Man muß den richtigen Gedanken haben, Meister. Ein Reisfeld bekommt nur Wasser, wenn man die Schleusen öffnet.«
    »Dann öffne sie, du Gauner«, sagte Jintao und ließ die Gebetsmühle kreisen. »Ruf den ersten Kranken.«
    Auf einem hochlehnigen, rot und gelb bemalten Stuhl unter der breiten Krone des Magnolienbaumes sitzend, empfing Jintao seine Kranken. Peihui stand neben ihm an der aus Holz geschnitzten und mit Goldfarbe bestrichenen Drachensäule, auf deren Plattform ein kleiner Pavillon aus grüner und hellbrauner Jade und mit einem kleinen goldenen Drachen auf dem First des geschwungenen Daches stand. Der Drache spuckte kein Feuer, sondern lachte, als habe er die Welt gerettet.
    Der erste Kranke, der durch die Tür schlich und nicht wagte, Jintao in die Augen zu blicken, war eine alte Frau. Peihui zeigte auf einen Hocker, der vor dem Meister stand, und die Frau setzte sich, zitternd vor Ehrfurcht.
    »Erzähle mir von deinen Beschwerden«, sagte Jintao. »Ein einziges
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