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Der Jade-Pavillon

Der Jade-Pavillon

Titel: Der Jade-Pavillon
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Bus aus Dali, vollgestopft mit sechsundsiebzig Kranken, keuchte die gewundene Bergstraße hinauf und hielt mit dampfenden Bremsen auf dem Parkplatz des Lama-Tempels. Oben, wo die Treppen endeten, die zum Heiligtum führten, stand wieder der alterslose Mönch Chen Xue, der die Bambustrompete geblasen und den Besuch angekündigt hatte. Würdevoll sah er auf die Menschen, die ihm Stufe um Stufe näherkamen. Einige mußten gestützt werden, weil sie zu schwach waren, aus eigener Kraft die Treppe zu bewältigen, und zwei Kranke lagen in Decken, die von zwei Angehörigen getragen wurden. An der Spitze dieser Elendsmenge ging der Busfahrer, dick und von unverschämter Gesundheit. Er war die beste Empfehlung für den Wunderarzt Deng Jintao, denn er sammelte die Kranken ein mit der Rede: »Seht mich an, meine Guten! Vor einem Jahr war ich krank bis auf den Tod, ein Gerippe mit Haut. Und jetzt? Seht mich nochmals an! Ich könnte Baumwurzeln aus der Erde reißen. Und wer hat mich geheilt? Der unsterbliche Deng Jintao.«
    Das tat seine Wirkung, auch im Geldbeutel des Dicken. Er nahm nicht nur den Fahrpreis bis Lijiang und zum Jadedrachen-Berg, sondern auch eine Gebühr für medizinische Beratung. Und jeder zahlte gern; Gesundheit kann nicht teuer genug sein, wenn man es sich leisten kann oder dafür gespart hat.
    »Ist der Meister da?« fragte Liu Yin, der Busfahrer. »Ich bringe eine Menge interessanter Fälle, die in Dalis Kliniken arge Kopfschmerzen bereiten. Sie saßen herum, die Ärzte klopften sie ab, erzählten, es sei alles heilbar, gaben Tropfen und Pillen und Pulver, aber kaum einer fühlte sich danach wohler.«
    »Kommt herein und bittet Buddha um sein Wohlwollen«, antwortete Chen würdevoll. »Dann führe ich euch zu Deng Jintao und seiner Helferin Hao Peihui. Wenn keiner auf der Welt mehr helfen kann – sie kennen den Weg zum langen Leben.«
    Die sechsundsiebzig Kranken betraten den Tempel, zündeten Räucherstäbchen an und gingen an dem bemalten Keramikteller, den Chen in der Hand hielt, nicht vorbei, ohne Yuan-Scheine daraufzulegen. Ein langes Leben ist unbezahlbar, was bedeuten da ein paar Yuan?
    Still versunken im Gebet, vor dem goldenen Buddha kniend und sich immer wieder vor ihm verbeugend, bis die Stirn den Boden berührte, faßten die Kranken immer größere Hoffnung, von dem Wundermönch Gesundheit zu erhalten. Auch Liu betete mit, aber er bat Buddha nicht um Gesundheit, sondern um ein langes Leben von Deng Jintao, denn solange es ihn im Jadegipfel-Tempel gab, litt Liu keine Not und gehörte zu den heimlichen Großverdienern von Dali.
    Am Ende des Gebetes führte Chen die Kranken zum Wohnhaus der Priester hinüber, stieg die schmale, steile Steintreppe hinauf, klopfte an die buntbemalte Haustür und stieß sie auf. Der süßliche Geruch von Räucherwerk schlug ihnen entgegen und flößte den Kranken stumme Ehrfurcht und bedingungslosen Glauben ein. Hao Peihui stand unter dem breitkronigen Magnolienbaum, eine uralte, zerknitterte Frau mit weißen, langen, zotteligen Haaren, gekleidet in ein wallendes gelbes Gewand, das sie körperlos machte.
    Liu, der seine Busfahrten bestens organisierte, stand als erster hinter Chen an der Tür und ermahnte die sechsundsiebzig Gebrechlichen zur Ordnung. »Einer nach dem anderen«, sagte er. »Der Meister kann ja nicht alle auf einmal untersuchen. Ich bleibe hier an der Tür und winke, wenn der nächste kommen kann. Nicht ungeduldig werden, Genossen, wir haben Zeit.«
    Chen nickte Liu zu, ließ seine Gebetsmühle kreisen und ging dann an der Schlange der Wartenden entlang zum Tempel zurück. Dort setzte er sich seitlich des goldenen Buddhas auf einen Holzhocker, stellte den Keramikteller auf seine Knie und begann die Yuan-Scheine zu zählen. Heute war ein guter Tag, das hatte er schon beim Sammeln gesehen, und wieder sagte er sich, es sei die beste Eingebung seines Mönchslebens gewesen, Deng Jintao und Hao Peihui im Jadegipfel-Tempel aufzunehmen.
    Als erster betrat Liu den Innenhof, und so großmäulig er in Dali und auf seinen Fahrten war, so voller Hemmungen war er jetzt, als er auf Peihui zuging und sich tief vor der Greisin verbeugte. Sie sah ihn mit starrem Gesicht an, als sei jede Falte in ihre Haut gemeißelt worden.
    »Die Kranken bitten um das Wunder eurer Heilkunst«, sagte er. »Ist der Meister bereit zu helfen?«
    »Wie viele seid ihr?« fragte sie mit hohler Stimme, die Liu bis auf seine Knochen spürte.
    »Sechsundsiebzig.«
    »Es werden ja immer
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