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Der Implex

Der Implex

Titel: Der Implex
Autoren: Dietmar Barbara; Dath Kirchner
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Das neue Denken war aber nicht einfach eine andere Sicht auf bekannte Dinge, sondern ein Explizitmachen ihrer Potentiale für das, was die Bürger wollten und bereits tatsächlich taten: Die Veränderung der Welt gemäß einem neuen Normensatz. Zu viele Ideengeschichtler des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts neigen dazu, den entscheidenden nichtdiskursiven Unterschied zwischen der Ideenwelt der aufsteigenden Bürgerklasse und der Ideenwelt ihrer Gegner aus den Augen zu verlieren: Eine große Anzahl Welttatsachen verhielt sich, wie die Heliozentristen, Mechaniker, Maschinenbauer sagten, auch wenn sie’s nicht sagten; allerlei ethnostrukturale Kruditäten, vorwissenschaftliche Konstrukte wie die Alchimie, die starren Ontologien des chinesischen Beamtenkosmos (der dann Klassifizierungen von in der Natur Vorfindlichem hervorbringt, wie sie sich Jorge Luis Borges für seine berühmte satirische Taxonomie, welche die Fauna nach »Tieren, die dem Kaiser gehören, einbalsamierten, gezähmten, Sirenen, Fabeltieren, herrenlosen Hunden« ordnet, zum Vorbild genommen hat) sollen einander nach dem Willen von Figuren wie Paul Feyerabend, radikalen Lesarten der Ideen von Kuhn oder Lakatos und Foucaultianischer Wissensarchäologie einerseits inkommensurabel sein, andererseits aber eben deshalb irgendwie transzendental gleichwertig, da qua Unvergleichlichkeit der hierarchisierenden Bewertung entzogen. Tatsächlich liefern diese Weltmodelle einander ausschließende Maßstäbe für richtig und falsch, der Witz an der bürgerlichen Naturerschließung, deren von Bacon kodifizierter Methodenlehre und dem metanarrativen Rahmen der Aufklärung ist aber, daß diese drei einen Maßstab identifizieren, an den sich die Gegner im Umgang etwa mit den Gezeiten, der Navigation auf See oder der Landwirtschaft längst hielten – wo es dem Herzog und dem Domprobst was bringt, denkt er nicht anders als der französische Materialist, nur fürs Soziale hat er eine Sonntagslehre aus göttlicher Legitimität und fraglos zu akzeptierender Tradition ersonnen, die von der Aufklärung als überflüssig weggekürzt werden konnte. Das Denken der Bürger brachte behauptete Welttatsachen als überflüssige Zusatzannahmen zum Verschwinden; es war also nicht einfach eine neue Art, die vorhandenen Daten zu gruppieren, sondern ein Verfahren, die Menge der Kriterien zu reduzieren, an denen man die Daten maß. Weil uns das, da wir es samt den Erfolgen, die es ermöglichte, und den Reichtümern, die es schuf, geerbt haben, gleichsam sozialintuitiv einleuchtet, kommen uns umgekehrt die Debatten, die man führte, als es erst durchgesetzt werden mußte, heute weniger inkommensurabel als vielmehr wie Zeitverschwendung vor: Gegen Galileis Entdeckung der Jupitermonde wurde noch im frühen siebzehnten Jahrhundert vorgebracht, sie verstoße aufgrund ihrer Veränderung der Sonnenbegleiterindizes gegen die im Makro- (die damals bekannten Metallsorten, irgendwelche Tierordnungen etc.) wie Mikrokosmos (etwa beim Abzählen der Öffnungen im menschlichen Kopf) allein maßgebliche Siebenzahl. Ob etwas existierte und wie es funktionierte, darüber entschieden bei den zugelassenen Intellektuellen der Sklavenhalter- und Feudalepochen nicht Beobachtung, Aufstellen von Sätzen, Probe und Gegenprobe, sondern die Freiheitsgrade des vorausgesetzten Weltmodells. Agencements von Ideen wie die christliche Religion, der Hinduismus oder Konfuzianismus rechtfertigen existierende soziale Arrangements (wenn das auch, vulgären Ideologietheorien zum Trotz, längst nicht alles ist, was sie leisten), das bürgerliche Denken aber war geeignet, dabei zu helfen, ein solches Arrangement zu zerstören: Das ist, über die oben angeführte Ausnutzung des Widerspruchs zwischen Alltags- und Sonntagsweltsicht der Gegner hinaus, der zweite entscheidende Unterschied zwischen den Ressourcen und Leistungen der Aufklärung einerseits, der zweite wichtige Unterschied zwischen dieser und beliebigen weitverbreiteten Denksystemen andererseits.
     
    Weil die europäischen Bürger eine Rede- und Schlußweise entwickelt hatten, die ihnen die Koordination ihrer Taten untereinander und den produktiven gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur massiv erleichterte, mußten schließlich sämtliche Gesellschafts- und damit auch symbolische Weltaneignungsordnungen, die der Expansion der Träger jener Ideenkomplexe im Weg standen, unter Anwendung ökonomischer, politischer, relativ selten auch: physischer Gewalt
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