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Der Implex

Der Implex

Titel: Der Implex
Autoren: Dietmar Barbara; Dath Kirchner
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Unabhängigkeitserklärung der Unterdrückten von ihren Bedrückern mit einem Argument zu bewaffnen, durchdringen einander im Begründungsgeflecht des bürgerlichen pursuit of happiness unauflöslich, einzeln nicht zu fassen, gemeinsam nicht zu widerlegen. Die beiden Igel Rousseau und Spinoza lassen den Hasen Plato sich zu Tode hetzen.
     
    Die Einführung dieses Begründungsgeflechts für die Setzungen der droits de l’homme inklusive der wirtschaftlichen (Besitz, Kauf, Verkauf) war der größte Neuerungsschub und Schock seit den Zerfallsbeben der Spätantike. Alles änderte sich – nicht etwa nur deshalb, weil, wie die Gelehrten bis auf den heutigen Tag unermüdlich aufzeigen, beweisen und herleiten, damit eine neue Sorte Subjektivität in die Welt kam samt einer neuen (man sagt meist: säkulare, innerweltliche, entzauberte) Kosmogonie und Kosmologie, sondern weil die Bürger dieses Begründungsgeflecht, statt es allein propagandistisch gegen Religion und Ständegesellschaft zu wenden, sich an ihm tatsächlich orientierten, als sie mit ökonomischen und politischen Waffen von größter Durchschlagskraft die Produktion, das Recht, den Staat umgestalteten und unter die Bestimmungen ihrer Klassenprogrammatik stellten.
    Dies, nichts anderes, bedeutet unser bei Marx und Engels geborgter Ausdruck, jenes Geflecht sei in der bürgerlichen Aufstiegszeit »zur materiellen Gewalt geworden« – bei diesen beiden Autoren nämlich bezeichnet »Materialiät«, »das Materielle« und der in ihrer Nachfolge scheußlich zerredete (dialektische, historische etc.) »Materialismus« immer die Orientierung des Denkens an menschlicher Praxis und deren gesamter irdischer Domäne, also nicht einfach das Reich der Ursachen und Wirkungen aus Steinen, Holz, organischer Materie und so weiter, sondern das Reich begründeter und begründbarer Handlungen und alles, was darin vorkommt.
     
    Im sechzehnten und siebzehnten europäischen Jahrhundert, unmittelbar bevor besagte materielle Gewalt entbunden wurde, hatte zunächst das holländische Bürgertum aus calvinistischen Warenproduzenten und Händlern dem spanischen Absolutismus und damit der zur Weltordnungsmacht aufgestiegenen Feudalität sowie ihrer ideologiepolitischen Hauptstütze, dem Katholizismus, raumpolitische Grenzen gesetzt. Während die alten Mächte noch ihre Mühe hatten, mit dieser Veränderung zurechtzukommen, begann bereits der Aufstieg Englands, dessen Bürgerklasse schließlich den beiden Hauptstützen der Niederlande, Handel und Kolonialismus, die neue Wertschöpfungstechnik verwissenschaftlichter kapitalistischer Produktionsoptimierung zugesellte und damit der kontinentalen Konkurrenz bald den Rang ablief.
    Alles, was per Erzeugung im Lohnarbeitsverhältnis und Verkauf als Ware auf dem Weltmarkt umgesetzt werden konnte, nach neuen, wissenschaftlichen, also aus der Verbindung von Beobachtung, Hypothese und logischer Verknüpfung aller daraus zu folgernden Propositionen hervorgegangenen Prinzipien tatsächlich herzustellen und zu verkaufen, erwies sich als Schlüssel zum tatsächlich sowohl richtigen wie authentischen, nämlich geschichtswirksam selbstgemachten Leben für diejenigen, eben Bürger, die das Zeug (im physischen wie moralischen Sinn) dazu hatten, auf diese Weise zu wirtschaften.
    Die Auffassung, das Menschenglück ganz allgemein werde auf diese Weise gemacht, verbreitete sich rasanter als jedes andere Eudaimoniekonzept in der Geschichte.
    Prinzipiell alles Brauchbare und Schöne für prinzipiell alle herstellen, verkaufen, verschiffen zu können, unabhängig vom Wegerecht und anderen Ständeprivilegien: Das war die erste praktisch durchzusetzende Universalie der neuen Erzeugungsweise, und ihrer Universalität entsprach dann alles, was in deren Umkreis gedacht wurde – das Erkenntnisideal (zuerst von Bacon formuliert: Prinzipiell alles erforschen, alle Erkenntnis ordnen, mit derselben Methode prinzipiell allen Problemen zu Leibe rücken, die sich überhaupt formulieren lassen) so gut wie das soziale (prinzipiell alle Menschen sind gleich, zunächst noch vor Gott, dann vor dem diesen bald ablösenden »Richterstuhl der Vernunft«).
    Die Bürger wirtschafteten anders (vor allem erfolgreicher, produktiver, spinozistisch gesehen also: richtiger) als die Feudalen; und ihre Denker dachten anders (wenn auch nicht unübersetzbar anders) als die Scholastiker (die Linksscholastik hatte da allerdings vieles vorbereitet, der Weg von Ockham zu Bacon ist nicht allzuweit).
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