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Die heimliche Lust

Die heimliche Lust

Titel: Die heimliche Lust
Autoren: Dalma Heyn
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1. Sex und Stummheit

    Ich schreibe eine Geschichte, deren Ende noch offen ist. Zunächst möchte ich Ihnen den Anfang zeigen, damit Sie eine Vorstellung davon bekommen.

    Als Anne ihrer Mutter eröffnet, daß sie Alex heiraten werde, senkt ihre Mutter den Blick, tut einen langen, gleichmäßigen, tiefen Atemzug, wie eine Gospelsängerin, die ihren Körper auf eine Freudenhymne vorbereitet, und sagt beim Ausatmen: »Gott sei Dank.« Diese sehr persönliche, intime Reaktion überrascht Anne, ja sie fühlt sich durch sie geradezu ausgeschlossen, aber andererseits versteht sie auch wieder das Entzücken ihrer Mutter.
    Anne selbst hatte ja kaum anders reagiert, nachdem sie fast schon die Hoffnung aufgegeben hatte, einen solchen Mann zu finden — ausgeglichen und normal, meist gut gelaunt, mit einem bedächtigen, kauzigen, unkonventionellen Humor, einen Mann, der aber doch gleichzeitig das Zeug zum Erfolg hatte und der ihr das Gefühl gab, daß sich mit ihm wirklich auskommen ließ, daß er ein guter Ehemann sein werde.
    Vier Jahre später — und ein Jahr nach der Geburt ihres Sohnes — kehrt die inzwischen sechsunddreißigjährige Anne wieder ins Berufsleben zurück, als Assistentin des Art Directors einer Werbeagentur. Es ist eine Teilzeitstelle. Ein halbes Jahr später stellt sie ein Au-pair-Mädchen ein, das sich von Montag bis Freitag um ihren Sohn kümmert, damit sie wieder voll berufstätig sein kann. Sie ist jetzt zwar häufig müde, aber glücklich.
    Der Kollege, mit dem sie am häufigsten zu tun hat, Kurt, ist Produktionsleiter. Er ist Vater eines Kindes, das am gleichen Tag wie Annes Sohn geboren ist; sie erzählen sich, wie drollig und wie anstrengend ihre Babys sind, berichten einander jeden Morgen, wieviel Stunden sie in der vorangegangenen Nacht schlafen konnten. Der Sieger mit der höchsten Stundenzahl lädt den anderen am Freitag zum Mittagessen ein. Sechs Monate lang bekommt Anne von Kurt allwöchentlich das Mittagessen spendiert.
    Eines Freitags beschließen sie, statt beim Lunch ein weiteres Mal Babystories auszutauschen und ihrem erschöpften Körper Salat und San Pellegrino aufzunötigen, einem dringenden Bedürfnis nachzugeben: sie nehmen in der Stadt ein Hotelzimmer und gönnen sich ein Schläfchen.
    Am nächsten Freitag tun sie genau dasselbe, nur daß sie sich vorher ein Essen aufs Zimmer bestellen; danach schlafen sie miteinander. Es erscheint ihnen beiden so natürlich, wie ein Mittagessen zu bestellen. Anne empfindet plötzlich eine überraschende Leidenschaft für diesen sanften, verspielten Mann, ein Gefühl von Freude, Leichtigkeit und Offenheit, das sie längst vergessen zu haben schien.
    Die beiden beobachten ihre Beziehung aufmerksam, ob das hinzugekommene sexuelle Element ihnen etwas von der Unbeschwertheit ihres Umgangs miteinander oder von ihrem Gefühl von Nähe nimmt. Aber im Gegenteil, ihre Vertrautheit wächst sogar. Sie behalten ihre wöchentlichen Rendezvous zwei Jahre lang bei. Bis heute wundert sich Anne über ihre sexuellen Empfindungen für Kurt und ihr insgesamt gesteigertes Selbstwertgefühl in seiner Gegenwart. Sie liebt diese Freundschaft, die ihr so wohltut. Sie hat Erfolg in der Arbeit und ist nach wie vor dankbar für ihren Mann, mehr denn je im Grunde, da er sich als ein fabelhafter Vater erweist. Sie hat sich zu einer zufriedenen Frau mit vielen überraschenden Facetten entwickelt, einer Frau, die ihre Fähigkeit zum Abenteuer, wie sie hofft, ein Leben lang behalten wird.

    Dieses Ende ist keine Finte, denn meine Geschichte hat überhaupt kein Ende. Ich weiß noch nicht, ob Anne ihrem Mann von ihrer Liebesaffäre erzählen wird — und wenn ja, ob er ihr verzeiht — , ob sie ihre Beziehung zu Kurt beenden oder ob sie beide Beziehungen beibehalten wird. Was ich allerdings weiß, ist, daß sie sich nicht unter einen Zug werfen wird. Und sie wird weder aufgehängt noch gesteinigt noch verbrannt werden, und Arsen wird sie auch nicht schlucken. Ich glaube nicht einmal, daß Alex sie hinauswerfen oder daß Kurt ihr am Ende wegen des Vergnügens, das er einst gemeinsam mit ihr genossen hat, aus dem Weg gehen wird; oder daß ihre schockierten Nachbarn sie schneiden werden. Ich hoffe, sie wird nicht entlassen werden, weil ihre Firma keine privaten Kontakte zwischen ihren Mitarbeitern duldet, und ich rechne auch nicht mit einem erbitterten Schwurgericht, das sie, empört über ihre Treulosigkeit, zu einer Soziopathin, Nymphomanin oder einer unfähigen Mutter erklären
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