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Der Implex

Der Implex

Titel: Der Implex
Autoren: Dietmar Barbara; Dath Kirchner
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Zugängliche« definieren.
    Den Geltungsbereich dieser Bestimmung machen Beispiele deutlicher als Behelfserläuterungen: Das Scheidungsrecht, die Theateraufführungspraxis oder das Rezept für »Rote Linsen auf bengalische Art« können sich ändern, wenn die Menschen, die diese Welttatsachen handhaben, darüber anders miteinander reden, neue Verabredungen treffen, neue Befehle ausgeben und befolgen etc. – die Bläschen aber, die Gaitan gesehen hat, leuchten so oder so, gleichgültig, wie wir darüber reden. Ein Eingriff etwa ins Genom ist nach dieser Auffassung also einer in die Natur, auch wenn es sich ums Genom des Menschen handelt statt dasjenige der Maispflanze. Die Menschentatsachen aber werden bei uns, ganz wie im mechanischsten französischen Materialismus, wieder zur Teilmenge der Naturtatsachen, einfach, weil es sehr viel weniger Dinge gibt, die sich durch das Darüberreden ändern lassen, als solche, die das nicht kratzt: ein Häufigkeits-, in letzter Instanz also wieder ein statistisches, ein Wahrscheinlichkeitsargument.
IV.
Wie die Bürger ihre Welt schufen
    Der moderne, heute gern auf Thomas Bayes zurückgeführte Wahrscheinlichkeitsbegriff, der uns in die Lage versetzt, solche Abwägungen zu vollziehen, war zur Zeit der Entstehung der bürgerlichen Varianten der Naturrechtslehre, die uns hier interessieren, freilich weder hinreichend entwickelt noch bei den philosophes auch nur im Ansatz verbreitet genug, die Grenzfluktuationen zwischen Natur und Menschengeschaffenem in ihrer unübersichtlichen Ausgefranstheit und dynamischen Abhängigkeit von der Entwicklung der Produktivkräfte zu beschreiben.
     
    Unter »Naturgemäßheit« einer Sozialtheorie verstand man deshalb zwei Spielarten von Wahrheitsbedingungen, eine der Kohärenz und eine der Korrespondenz, die wiederum den beiden Grundzügen aufklärerischer Sozionormativität entsprechen, die wir oben den spinozistischen und den rousseauanischen Zug genannt haben.
    Der spinozistische ist der rationalistische, der rousseauanische ist der empiristische. Der spinozistische stützt sich aufs Deduktive, der rousseauanische aufs Induktive. Der spinozistische hebt auf die innere Stimmigkeit der Konstruktion ab, der rousseauanische auf ihr Authentisches. »Richtig« ist im spinozistischen Modus der Aufklärung, was auf korrekte Weise, more geometrico , aus unanfechtbaren Axiomen herausdeduziert werden kann. »Richtig« ist im rousseauanischen Modus der Aufklärung, was der Menschennatur (die man nicht einmal »gut« nennen muß wie Rousseau, um in diesem Modus folgern und begründen zu können) paßgenau frommt, statt sie zu schänden.
    Der spinozistische Gedanke ist, wie jeder aus der großen, würdigen und vielfach windigen Tradition des Rationalismus, eine verborgene Tautologie, deren Richtigkeitsverständnis leer bliebe ohne (latent immer mitgemeinte) normative Hintergedanken. »Gut und schlecht«, so mathematisch binarisiert Spinoza sie in der Ethik miteinander verrechnet, werden bei ihm doch immer an einer Größe gemessen, die er ohne weitere Begründung setzen muß, nämlich an ihrem Nutzen oder eben Nachteil für die Vermehrung des Tätigkeitsvermögens – das Produktive ist das Gute, was bei Spinoza bis in die Naturordnung selbst durchgreift: Lust ist nur gut, weil sie Kräfte weckt, Unlust schlecht, weil sie dieselben hemmt.
    Der Rousseausche Gedanke wiederum ist, wie jeder aus der ernsten, betriebsamen und betrugsgefährdeten Tradition des abendländischen Empirismus, schuldig der von Hume aufgedeckten ernsten logischen Schwäche, daß man aus einem Sein nun mal kein Sollen ableiten darf, wenn man es nicht mit der Willkür halten will. Befunde sind nun mal kontingent, deontische Sätze aber bindend oder nichtig, es gibt dazwischen keine Brücke.
    Die ideengeschichtliche Pointe der Juxtaposition dieser beiden Denkstränge im Werden und Wirken der Aufklärung ist indes die, daß erst aus ihrer Verbindung die Unwiderstehlichkeit der Gesamtdynamik »Aufklärung« hervorgeht: Was Spinoza sagt, kann gar nicht falsch sein, ist aber trivial ohne die Beimengung dessen, was Rousseau zu denken aufgibt, obwohl dies, da es einfach die Setzung vornimmt, um die sich die spinozistische Formel drückt, weder wahr noch falsch sein kann. Das rechnend Objektive, als das der Spinozismus dem Geflecht aus ontischen und deontischen Elementen der Sozialgeschichte zu Leibe rückt, und das authentisch Subjektive, das Rousseau in Stellung bringt, um die
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