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Der Implex

Der Implex

Titel: Der Implex
Autoren: Dietmar Barbara; Dath Kirchner
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bürgerliche Selbst, in dem ein secretum meum (Petrarca) lebt, auf ein universales Gattungsniveau abstrahieren soll. An dieser Freiheit finden in den polemischen, im engsten Verständnis politischen Phasen der Aufklärungspublizistik sogar andere, scheinbar basale Naturrechtskategorien ihre Grenze – »Give me liberty or give me death« ist eine Kamikazelosung, die bis ins zwanzigste Jahrhundert (vor allem dessen zweite Hälfte, das American Century) politische Fakten setzen sollte und sich erst langsam (und unter Schmerzen sowie Rückfällen in verhängnisvoll Vorbürgerliches) wieder verliert. Noch der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt versuchte in seiner berühmten, von Norman Rockwell mit einem ikonologisch zu uferloser Ausdeutung einladenden Bilderquartett illustrierten State of the Union-Address vor dem Kongreß am 6. Januar 1941 den durch allerlei kleine und große Betriebsunfälle der Geschichte lädierten und verzettelten Katalog der Menschenrechte nicht etwa auf vier Grundwahrheiten, vier Grundgesetze oder vier Grundforderungen, sondern vier Grundfreiheiten zu reduzieren: Freiheit der Rede, Freiheit des Glaubens, Freiheit von Not und Freiheit von Furcht. Eine solche Wesensbestimmung der politischen Grundrechte, die »Freiheit« zur anthropologischen Essenz erklären muß, halst sich einen seit spätestens der Französischen Revolution immer wieder erbittert ausgefochtenen, jahrhundertelangen Streit zwischen den beiden Normativpolen »Freiheit« und »Gleichheit« auf, der leicht zu vermeiden wäre, wenn man die dieser Binarität zugrundeliegende Opposition – hier Individuum, hier Kollektiv – als scheinhaft erkennen würde: Wo die Freiheit der Einzelnen durch den Gleichheitsnutzen bedroht erscheint, wird schlicht ausgeblendet, daß Freiheit selbst eine sozialrelationale, keine individualontische Kategorie ist: Robinson Crusoe ist, bis Freitag eintrifft, eben nicht frei, sondern bloß von anderen unbelästigt. Er hat mit der Naturnot zu kämpfen; Freiheit im neuzeitlichen, bürgerlichen Sinn jedoch setzt Muße voraus – schon die Luxusgüter »freie Rede« (eine Meinung artikulieren also, die man sich erst einmal gebildet haben muß), das Wählen und Sichwählenlassen, also die basalen liberaldemokratischen staatsbürgerlichen Funktionsrechte, setzen eine hochgradig arbeitsteilige, der übelsten Naturnotwendigkeit durch kollektives, nicht mehr vom Ernteglück allein abhängiges Wirtschaften enthobene Vergesellschaftungsform voraus. Die Frage an Liberale, die dies nicht einsehen wollen, muß lauten: Wieviel von dem, womit du deine Freiheit und Individualität leben kannst, von der Kleidung und Nahrung über die Mittel deines Erwerbs bis zu den sublimsten Dispositiven kultureller Erfahrungen, hast du selbst hergestellt? Wie autonom ist deine Freiheit einerseits und wie weitreichend andererseits Resultat eines Menüs, das kollektive Produktion nicht nur von lebensgestalterischen Optionen voraussetzt?
     
    Alle diese Irrtümer – der invertierte Bibelglaube der Enzyklopädisten, die Verdinglichung des Erkenntnisprozesses zum Automaten für die Herstellung von Gewißheiten, das Mißverständnis von Kritik als Überführung der einen Sorte Substanz in die andere, die falsche Bestimmung der Technik als Instrument der Naturbeherrschung, die Fehllektüre der Forderungskataloge des Naturrechts als Selbstverwirklichungsregister individueller Freiheitsoptionen – sind auf höherer Gesellschaftsstufe als derjenigen, in der die bürgerliche Emanzipation durchgesetzt werden mußte, erkennbar und korrigierbar, damals aber waren sie notwendig, weil nur sie, in der seinerzeit von erfindungsreichen Leuten zur intellektuellen Kriegsmaschine gegen die alte Ordnung montierten Konstellation, der denkerischen Unruhe, welche die schönste Tugend der Aufklärung ist, den nötigen Anfangszustand bereitstellen konnten, von dem sich abzustoßen die vieldiskutierte, oft beklagte und selten mit angemessener Dankbarkeit gewürdigte Entzauberung der Welt bedeutete.
VI.
Verum, Factum, Implex
    Daß man, als die Neuzeit zu sich kam, glaubte, etwas freizulegen – eine menschliche Natur, eine prima philosophia , eine neue Sorte Gewißheit –, weil man nicht sehen durfte und wollte, daß man in Wahrheit etwas erschuf, gehört zu den Latenzen, die das Menschenhirn zu allen Zeiten davor beschützen, vor lauter Wahlmöglichkeiten an sich selbst als der Instanz irrezuwerden, die da wählt. Wie bei einer Psychotherapie die
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