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Der Hühnerführer: Roman (German Edition)

Der Hühnerführer: Roman (German Edition)

Titel: Der Hühnerführer: Roman (German Edition)
Autoren: Hans Weitmayr
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dem Toten zu seinen Füßen.

1995
     
     
    Damit beendete der alte Mann seine Geschichte. Zumindest den Teil, den er bis dahin kannte. Dem unbeteiligten Beobachter wäre aufgefallen, dass der Blick des Schützen irgendwann an einen anderen Punkt gewandert war.  
    Nicht ins Leere gegangen – das wäre ein Missverständnis gewesen, denn durchaus fokussiert war der Blick, nur eben nicht auf ihn, seinen wie es der Unbeteiligte wohl in einer ehrlichen Stunde zugegeben hätten, imaginären Gesprächspartner.   
    Hätte der Beobachter dann den Wahnsinn Alexanders geteilt und gesehen, was er sah, dann wäre das ein junger Mann in Uniform gewesen, bleich, traurig, mit zerzaustem Haar und einem unnatürlich runden, kleinen, blutverkrustetem Loch exakt in der Mitte seiner Stirn.   
    Wäre der Beobachter auch noch der tschechischen Sprache mächtig gewesen, er hätte auch das erste Wort, verstanden, das der Soldat, denn um einen solchen handelte es sich bei näherer Betrachtung, an den alten Mann richtete: „Prodz? Warum?“  
    Das Achselzucken des solcherart Angesprochenen wäre für den Beobachte wahrscheinlich nur ein weiterer Beweis für dessen Amoral, dessen Kälte gewesen. Einen Fragenden, der offensichtlich die längste aller Reisen hinter sich gebracht hatte, mit einer derart nachlässigen Geste abzuspeisen, konnte nur als verwerflich bezeichnet werden.  
    Der Beobachter hätte sich geirrt.  
    Denn der alte Mann mit der Waffe in der Hand, war nicht gleichgültig sondern nur und schlicht müde, erschöpft. Zu kraftlos, um zu antworten, zu ausgelaugt, um durch irgendeine andere Bekundung zu bestätigen, dass er zumindest verstanden hatte.  
    Der junge Soldat hingegen hätte verstanden. Dort wo er herkam, hatte man zumeist Kenntnis von denSchwächen der Lebenden. Auf der anderen Seite neigten die Seelen an jenem Ort auch dazu, hartnäckig der Beantwortung ihrer Fragen zu harren.  
    So auch diese.  
    Der Beobachter hätte also miterlebt, wie der Soldat Alexander in einen unruhigen Schlummer fallen ließ, und wartete, bis der alte Mann, verwirrter als zuvor, wieder aufgewacht war.  
    Dann hätte die Seele wieder diese Frage gestellt: „Prodz?“ Warum?  
    Alexander hätte die Erscheinung durch trübe Augen   betrachtet, und die Rechnung, die noch offen war, überschlagen. Viel konnte er nicht mehr begleichen, zu groß die Diskrepanz zwischen den Jahren, die er dem jungen Soldaten gestohlen hatte und denen, die er sich selbst noch rauben konnte.  
    Letzten Endes konnte er den Rest, der offen bleiben musste, nur schmälern, indem er die Frage doch noch beantwortete. Die Frage nach dem prodz.  
    „ Ich war unbewaffnet“, hätte ihn der junge Soldat erinnert. „Es war mein zweiter Einsatz, ich war gestolpert, meine Pistole war mir aus der Hand gefallen, Du hobst sie auf und zieltest auf mich. Ich hatte die Hände gehoben. Du starrtest mich an. Lange Sekunden ...“ 
    Alexander hätte gelacht. „Und dann drückte ich ab. Und es funktionierte nicht, weil ich ja noch nie eine Waffe in der Hand gehalten hatte und nicht daran gedacht hatte ...“  
    „ Ich machte mir in die Hose, als Du abdrücktest“, wäre der Soldat fortgefahren. „Aber dann dachte ich, ich würde leben. Ich dachte, der Österreicher hätte nur im Affekt abgedrückt, aber nachdem es nicht funktioniert hatte, würde er zu Sinnen kommen, würde das wütende Adrenalin zurück rauschen ...“ 
    „ Aber ich senkte die Waffe nicht, nahm die andere Hand zur Hilfe und entsicherte die Waffe...“ 
    „ ... und hast mich totgeschossen.“ Der junge Soldat hätte traurig auf das seltsame Loch in seiner Stirn gezeigt. Für einen bizarren Moment hätte der Beobachter erwartet, der Tote würde seinen Finger hineinstecken. Fast hätte er gekichert. 
    „ Prodz.“ 
    Alexander hätte den Kopf gesenkt, zu Boden geblickt, auf Dvorschaks Leiche gestarrt.  
    „ Prodz.“ 
    Alexander hätte seinen Blick   nicht abgewandt, stur nach unten gehalten, auf Dvorschak, hätte die Blutlache beobachtet, die sich dunkel glänzend auf dem hölzernen, imprägnierten Fußboden ausbreitete.  
    „ Prodz.“ 
    Dvorschak hätte hochgeblickt.  
    Der unbeteiligte Beobachter hätte jetzt erwartet, Scham in den Augen Alexanders zu sehen. Entsprechend überrascht wäre er ob der Härte gewesen, die da plötzlich in diesen alten Augen funkelten.  
    „ Prodz?“ hätte er den Soldaten gefragt. Ein gehässiger Unterton. 
    Der Soldat hätte genickt.  
    „ Weil
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