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Der Hühnerführer: Roman (German Edition)

Der Hühnerführer: Roman (German Edition)

Titel: Der Hühnerführer: Roman (German Edition)
Autoren: Hans Weitmayr
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gegenüber, neben ihm ein leichter, an den Kanten abgewetzter Reisekoffer. Er hatte ein Zimmer für das Wochenende reserviert, was mir an sich nicht weiter bemerkenswert erschien. Erst als er sein Anmeldeformular ausgefertigt an mich zurückgab, bemerkte ich, dass er als Wohnadresse Wien angegeben hatte, und zwar eine mir unbekannte Straße im 19. Bezirk.   
    Ich nahm mir vor, Herrn Dvorschak genauer im Auge zu behalten, war die Suite doch nur von ihm und für ihn alleine gebucht worden. Mein Verdacht? Nun, lassen Sie es mich so ausdrücken: Das Haus, in dem ich damals meine Dienste als Concierge verrichtete, war laut Stadtführer das erste am Platze und demzufolge nicht unmittelbar in die Kategorie “Stundenhotel” einzuordnen.   
    Nicht, dass irgendetwas sonst an Erscheinung oder Auftreten des neuen Gastes mein Misstrauen gerechtfertigt hätte. Wären wir uns zufällig auf der Kärntner Straße begegnet, wäre mein Blick weder an seinem schlichten, vielleicht etwas schief sitzenden Anzug, der einfärbigen, dunkelgrauen Krawatte, noch an den durchgetretenen, aber offensichtlich liebevoll gepflegten Schuhen hängengeblieben. Auch sein etwas verschlissener Koffer, auf dem er seinen Hut abgelegt hatte, hätte wohl kaum vermocht, meine Aufmerksamkeit zu erregen.   
    Doch genau diese gepflegte Schlichtheit, diese alles durchwirkende und umgehend erkennbare Bescheidenheit, die Herr Dvorschak ausstrahlte, waren es, die nicht in diese Hallen passten.   
    Herr Dvorschak, so hatte ich den Eindruck, spürte das. Fühlte er sich unbeobachtet, zupfte er verlegen an seinem Hosenbein, wischte ein imaginäres Staubkorn von seinem Jacket, prüfte mit seiner Handfläche den Sitz seines Haares. Mit einem schüchternen Lächeln nahm er seinen, vorher an mich zur Vervollständigung des Anmeldeformulars ausgehändigten Pass zurück, murmelte ein kaum vernehmbares “Dankeschön” und schlug beinahe entsetzt das Angebot aus, sein Gepäckstück von einem Lohndiener nach oben bringen zu lassen.  
    “ Dann darf ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen?”  
    Aus dem   Augenwinkel heraus konnte ich beobachten, wie Herr Dvorschak hektisch Hut und Koffer an sich nahm, wobei er sich nicht recht entscheiden konnte, wie er den Pass halten sollte. Schließlich klemmte er ihn zwischen Zeige- und Mittelfinger ein, ganz so, als handle es sich um eine unförmige, schlecht gerollte Zigarette (Seltsam, welche Details man von scheinbar bedeutungslosen Begebenheiten in Erinnerung behält, selbst wenn sie, wie in diesem Fall ein halbes Jahrhundert zurückliegen, vielleicht aber gerade deswegen). 
    “ Kann ich Ihnen nicht doch Ihren Koffer abnehmen?”, erkundigte ich mich, ohne mir meine, wie ich mir im Nachhinein schmeichle, aufkommende Ungeduld mit Herrn Dvorschaks Unbeholfenheit anmerken zu lassen. 
    “ Nein, nein, lassen Sie nur. Einen Moment bitte.” Herr Dvorschak hielt kurz inne, stellte Koffer und Hut ab, steckte den Pass in die Innentasche seines Sakkos, nickte sich selbst ermutigend zu, nahm Gepäckstück und Kopfbedeckung wieder auf, lächelte mich mit neuer Zuversicht an und sagte: “So, jetzt können wir.” 
    Am Empfang vorbei, stiegen wir die drei Mittelstufen der Lobby hoch, wo der gläserne, mit glänzenden Messingverstrebungen verzierte Fahrstuhl bereits auf uns wartete. Obwohl nur zu zweit, war das Raumempfinden deutlich ausgeprägter als es hätte sein müssen. Schuld daran war der Koffer, dessen Anwesenheit mich über seine – tatsächlich begrenzten – Maße hinaus störte. Denn der Lift war eigens für den Transport von – und nur von – Personen gedacht. Das Gepäck hingegen wurde im Regelfall, egal ob es sich um eine einzelne Hutschachtel oder die achtundzwanzig Schrankkoffer von Zsa Zsa Gabor handelte, vom zuständigen Gepäckträger auf einem eigens dafür bereitstehenden Karren transportiert und auf das Zimmer gebracht. Dort bekam der Träger dann sein Trinkgeld in die Hand gedrückt. Deshalb auch der Begriff Lohndiener, manchmal auch “Dienstmann”, wobei diese Bezeichnung bereits damals, als ich Herrn Dvorschak zum ersten Mal traf, etwas antiquiert war.   
    Immerhin schrieben wir das Jahr 1959, der Krieg war in unvorstellbare Ferne gerückt – oder schien es zumindest zu sein, nachdem niemand mehr darüber reden wollte. Wir alle befanden uns in einem Zustand hektischer Betriebsamkeit. Unser eigenes kleines, nicht-deutsches Wirtschaftswunder hatte an die Tür geklopft.   
    Auch an meine.  
    Ich hatte mein
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