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Der Hirte, Teil 4 (Der Hirte - eine mittelalterliche Weihnachtsgeschichte) (German Edition)

Der Hirte, Teil 4 (Der Hirte - eine mittelalterliche Weihnachtsgeschichte) (German Edition)

Titel: Der Hirte, Teil 4 (Der Hirte - eine mittelalterliche Weihnachtsgeschichte) (German Edition)
Autoren: Richard Dübell
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hatte ihn keinen Schritt weit, keinen Gedanken lang von jenem Moment entfernt, an dem er vor Sophias Leichnam in die Knie gesunken war und gewünscht hatte zu sterben.
    Er empfand eine undeutliche Art von Zärtlichkeit gegenüber Schwester Venia, die ihn aus diesem Zustand befreit hatte. Er empfand eine ganz deutliche Scham, wenn er daran dachte, wie er sich Johannes gegenüber verhalten hatte.
    Und er empfand ein ganz und gar überwältigendes Bedauern darüber, die Zeit nicht besser genutzt zu haben. In ein paar Augenblicken würden sie alle tot sein.
    Die Glocken schwiegen. Die Bäume lichteten sich und gaben den Blick auf den Fluss frei und die Stadt, die sich an sein Ostufer schmiegte. Rainald erwartete, dass die Wölfe in das Schweigen einfallen und ein Triumphgeheul anstimmen würden, doch die Wölfe blieben stumm. Das Wasser des Flusses war schwarz in der Dämmerung, die alte Römerbrücke ein schneegezuckerter weißer Finger zum anderen Ufer hinüber. Das Gelände fiel sanft zur Stadt hin ab. Als hätte jemand mit einem besonderen Sinn für Humor ihnen eine bessere Chance geben wollen, waren sie an einer Art waldigen Halbinsel herausgekommen, die in die Felder hinein ragte. An allen anderen Stellen traten die Bäume viel weiter zurück. Die Gebäude der Stadt ragten zum Greifen nah aus der schmalen Ebene vor dem Flussufer empor, rauchverschleiert von den Feuern in den Kaminen, blau verschwimmend im schwindenden Licht.
    „Es gibt eine Möglichkeit“, sagte Schwester Venia.
    „Papa?“
    „Ja, meine Kleine?“
    „Werden uns die Wölfe fressen?“
    Rainald wurde sich des Blicks seines Sohnes bewusst. Er wandte sich Blanka zu, die ihn mit dunklen Augen musterte.
    „Du brauchst keine Angst zu haben“, sagte er. Sie erwiderte nichts, doch ihr Blick schien zu sagen, dass sie wusste, er hatte sich um die Antwort gedrückt. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Johannes erschauerte. Er weint nicht mal, dachte er undeutlich. Er weiß, dass wir bereits wandelnde Tote sind, und er weint nicht mal mehr. Plötzlich wünschte er sich so sehnlich, niederzuknien und seinen Sohn an sich zu drücken, dass seine Beine schwach wurden. Es gab keinen Gott, dem er einen Handel anbieten konnte; wenn es einen gegeben hätte, er hätte ihm alles angeboten im Austausch dafür, mit seinen Kindern weiterleben zu dürfen. Er ertappte sich dabei, wie er dennoch betete: Herr, hilf uns. Nimm Dir, was immer Du willst, aber hilf uns!
    „Die Obstbäume“, sagte Schwester Venia. „Sie sind ganz leicht zu erklettern. Ein gichtkranker Abt käme hinauf. Nur ein Wolf nicht.“
    „Nein“, sagte Rainald. Die Stimme, die die Gebete in seinem Herzen aufsagte, stockte und sagte dann ganz deutlich: Diesen Handel habe ich nicht gemeint, Herr.
    „Aber es ist die einzige Möglichkeit. Du hast doch gesehen, wie gut ich im Klettern bin. Und ich laufe wie ein Hase.“
    „Nein.“
    „Ich laufe als erste los. Sie werden sich auf die erste Bewegung stürzen, die sich außerhalb der Bäume zeigt. Diese Bewegung werde ich sein. Ich renne zu der Streuobstwiese hinüber. Du läufst mit den Kindern los, sobald sie auf meiner Fährte sind. Wenn wir Glück haben, seid ihr hinter der Mauer und ich auf einem der Bäume, bis den Bestien klar geworden ist, dass wir sie hereingelegt haben.“
    „Nein“, sagte Rainald.
    „Es kann funktionieren!“
    „Wir versuchen es zusammen oder gar nicht.“
    „Manchmal muss man eine Entscheidung treffen. So, wie du vorhin auf der Lichtung eine getroffen hast. So, wie Johannes eine getroffen hat, als er sich mit Blanka in der Truhe versteckte, anstatt zu versuchen, dich zu erreichen.“
    „Ihr habt keine Chance. Ich werde Euch nicht opfern“, sagte Rainald heiser. „Nicht um meinetwillen.“
    „Du opferst mich nicht. Und es geht um die Kinder, nicht wahr?“
    „Ich lasse es nicht zu“, sagte Rainald. „Das ist das letzte Wort in dieser Angelegenheit.“

    Rainald ermaß die Strecke. Er sah die Straße, die von weiter rechts kam und sich in zwei, drei weiten Kurven auf die Stadtmauer zu wand; er sah das geschlossene Tor und meinte, die Bewegungen der Wächter auf dem Wehrgang wahrzunehmen und das Glosen des Feuers in seinem Becken auf der am weitesten vorgeschobenen Befestigung; sein Blick streifte den Galgen, der zwischen dem Wald und der Stadt stand, zerfranste Stricke von seinem Querbalken baumelnd. Er zog die Schultern hoch. Er gab seinen Beinen den Befehl zu laufen, doch sie bewegten sich nicht von der Stelle. Er
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