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Der Hirte, Teil 4 (Der Hirte - eine mittelalterliche Weihnachtsgeschichte) (German Edition)

Der Hirte, Teil 4 (Der Hirte - eine mittelalterliche Weihnachtsgeschichte) (German Edition)

Titel: Der Hirte, Teil 4 (Der Hirte - eine mittelalterliche Weihnachtsgeschichte) (German Edition)
Autoren: Richard Dübell
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erinnerte sich, mehr als einmal brüllend und das Schwert schwingend in ein Getümmel gesprengt zu sein, dessen Ausgang eigentlich auch nur der sichere Tod hatte sein können, und es war ihm jedes Mal gelungen, seine Furcht zu bezwingen. Warum diesmal nicht? Blanka brachte ihren Mund an sein Ohr.
    „Sieht uns Mama jetzt zu?“, fragte sie.
    Die Wölfe heulten so unvermittelt los, dass Rainald zusammenfuhr. Sein Herz begann zu trommeln und schnürte ihm den Atem ab. Das Jagdsignal …!
    „Ja“, stieß er hervor. „Sie sieht uns zu und drückt uns die Daumen!“
    Er rannte los.

***

    Die Wölfe schossen aus dem Wald heraus, zehn, zwölf, fünfzehn schlanke Todesbringer, glitten über den Schnee dahin und schwenkten in einem geradezu eleganten Manöver nach links, um ihrer Beute den Weg abzuschneiden. Sie rannten; Rainald wusste, dass sie noch nicht einmal halb so schnell liefen, wie sie eigentlich konnten. Er fluchte und versuchte, schneller zu laufen. Johannes, der neben ihm herhastete, drängte sich unwillkürlich näher an ihn heran, und Rainald stolperte fast über ihn.
    „Lauf!“, schrie er. Johannes spurtete noch schneller und überholte ihn. „Lauf!“
    Der Junge sah über die Schulter zu seinem Vater hoch. Und voller Entsetzen sah Rainald, wie Johannes’ Beine durcheinander gerieten, wie er ins Taumeln geriet und stürzte. Rainald brüllte auf und kam rutschend zum Halt. Sie hatten von Anfang keine Chance gehabt, aber zu scheitern, kaum dass sie losgelaufen waren …
    Schwester Venia warf sich herum, riss sich das Gebende vom Kopf und rannte schreiend und Arme und Schleier wedelnd auf die Wölfe zu. Ihr Haar war so kurz geschoren wie das eines Mannes, und Rainald sah zum ersten Mal, wie jung sie tatsächlich noch war.
    „Kommt zurück!“, schrie er.
    Sie hörte nicht auf ihn. Johannes rollte sich herum und ächzte. Er hielt seinen Knöchel umklammert. Rainald zerrte ihn in die Höhe. Der Junge knickte ein und fiel gegen ihn. Rainald warf sein Schwert in den Schnee, hob ihn hoch und warf ihn sich über die Schulter. Johannes schrie auf und versuchte, sich im Pelz festzuhalten. Blanka wimmerte, den Kopf in Rainalds Halsbeuge vergraben. Johannes schien fast so schwer zu sein wie ein Erwachsener; fast so schwer wie Wolfram, als Rainald damit kämpfte, seinen Leichnam auf Caesars Rücken zu heben. Er würde nicht einmal mehr die Hälfte schaffen mit dieser Last; mit viel Glück würde er bis zum Galgen gelangen und dort einen letzten, kurzen Kampf mit bloßen Händen führen. Vermutlich war es eine Art von poetischer Gerechtigkeit, zu Füßen des Galgens zu sterben. Er taumelte vorwärts.
    Zu seiner Überraschung waren die Wölfe nicht mehr da. Er drehte den Kopf. Er sah sie über den Schnee hetzen, einer kleinen, schmalen Gestalt hinterher, die auf die Obstbäume zulief. Rainald rannte weiter. Es war wie an der Fähre, nur, dass Rainald diesmal nicht mit dem Schwert dazwischentreten würde. Das Schwert lag irgendwo dort hinten im Schnee. Die Wölfe schienen beinahe unecht zu sein, Wesen aus einem dunklen Traum, die über der weißen Fläche dahinflogen und mit jedem Satz zu der flüchtenden Klosterschwester aufschlossen. Sie schrie immer noch, schwenkte die Arme; Rainald sah, wie sie den Schleier verlor und nicht einmal stockte. Der Schleier flappte wie ein ungeschickter, schmutzig weißer Vogel durch die Luft, gaukelte auf den Boden – die Wölfe rannten darüber hinweg, und er war verschwunden. Die Wölfe würdigten Rainald und die Kinder keines Blickes.
    „Es klappt, bei Gott, es klappt!“, keuchte Rainald und wusste nicht, dass er es laut gesagt hatte. Er versuchte, noch schneller zu laufen. Die Stadtmauer schwankte, und ihre Umrisse lösten sich bei der Erschütterung jedes Schritts in mehrfache Konturen auf. Rainald stierte sie an wie ein Verdurstender einen Brunnen. Er sah undeutlich, wie die Wachen auf dem Wehrgang zusammenliefen und nach draußen deuteten.
    „Macht das Tor auf!“, brüllte er. „Die Wölfe sind hinter uns her!“ Er ahnte, dass sie ihn über die Entfernung hinweg nicht hören konnten. Er brüllte es dennoch ein zweites Mal; er fühlte sich fast glücklich, dass es überhaupt Sinn zu geben schien, es zu brüllen. Er rannte am Galgen vorbei, fühlte den kalten Hauch seiner Gegenwart und vergaß ihn wieder. Schon ließ sich bei den Männern auf dem Wehrgang erkennen, welche Farben ihre Tuniken hatten und ob sie Bärte trugen oder nicht. Johannes stöhnte und ächzte und war
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