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Der Hirte, Teil 4 (Der Hirte - eine mittelalterliche Weihnachtsgeschichte) (German Edition)

Der Hirte, Teil 4 (Der Hirte - eine mittelalterliche Weihnachtsgeschichte) (German Edition)

Titel: Der Hirte, Teil 4 (Der Hirte - eine mittelalterliche Weihnachtsgeschichte) (German Edition)
Autoren: Richard Dübell
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ein Mühlstein auf der rechten Schulter, Blanka eine unwesentlich leichtere Last auf seinem linken Arm. Rainalds Muskeln und Sehnen brannten, jeder Atemzug bestand aus Feuer.
    „Macht das Tor auf!“
    Er wandte sich im Laufen um. Der Schock traf ihn wie ein Schlag. Die Wölfe waren wieder auf seinen Fersen, ein Angriffskeil aus einem Dutzend und mehr Tieren. Vielleicht bildete er es sich ein, doch er konnte ihre Pfoten über den Schnee hetzen hören. Hinter ihnen, am Ende des Rudels, mit weiten, raumgreifenden Sprüngen: der Anführer. Der wahnsinnig gewordene Schäferhund. Er überragte alle anderen und bellte und geiferte wie ein tobsüchtiger Drache, trieb sein Rudel vor sich her.
    „Macht das Tor …“
    Die Wachen hatten ihre Bögen gehoben und gespannt. Sie zielten auf ihn. Es war ein zweiter Schock. Er hatte vergessen gehabt, dass der Unterschied, ob die Wölfe ihn kriegten oder die Bürger der Stadt, nur darin lag, dass er auf unterschiedliche Art sterben würde. Beinahe wäre er stehengeblieben.
    „Lauf weiter und vertraue!“, flüsterte eine Stimme in seinem Ohr.
    Fünf Schritte weiter wurde ihm klar, dass es nicht die Stimme Blankas gewesen war. Die Pfeile auf den Bögen folgten ihm. Hundertfünfzig Schritte. Auf diese Entfernung würden sie nicht vorbeischießen. Hundertzwanzig Schritte. Auf diese Entfernung würden sie absolut tödlich sein. Hundert Schritte … ein Treffer würde jeden Einzelnen von ihnen auf den Boden nageln. Er hatte die Stimme gekannt. Seine Haare stellten sich auf. Sein Herz wollte vor Erschöpfung zerspringen. Die Wölfe japsten und knurrten, ihre Pfoten trommelten so schnell wie sein Herzschlag. Er konnte sie riechen. Er hatte die Stimme gekannt.
    „Gnade!“, schrie er. „Macht das Tor auf!“
    Die Pfeilspitzen folgten ihm. Ein Gesicht tauchte zwischen den Stadtwächtern auf. Als er es das letzte Mal gesehen hatte, hatte es noch blasser und verbissener ausgesehen als jetzt und ihn erneut über eine Schwertklinge hinweg angesehen. Sie hatten keine Worte mehr gewechselt. Sie hatten nur einen langen Blick ausgetauscht. Rainald hatte ihm nicht standhalten können. Von den fünf Trecks, die er in der Zeit zwischen Sophias Tod und dem ersten Schnee überfallen hatte, waren drei von Ratsherr Dielsdorfer gewesen. Er hatte den Mann vermutlich ruiniert.
    Dielsdorfer bellte einen Befehl. Die Stadtwächter spannten die Bögen noch weiter.
    „Verschont die Kinder!“, schrie Rainald. „Um Christi Willen, verschont die Kinder.“ Er glaubte das Knarren der aufs äußerste gespannten Bögen zu hören. Gott hatte keinen Handel abgeschlossen.
    Etwas schnappte nach ihm und verfehlte ihn. Er spürte heißen Atem an seiner Seite. Vor seinen Augen tanzten schwarze Muster, zwischen ihnen das Dreiecksgesicht eines Wolfs, zusammengesetzt aus der Schwärze und dem Weiß des Schnees. Rainalds stöhnte und schlug einen Haken. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Sein Brustkorb stand in Flammen. Die Pfeilspitzen folgten seinem Manöver.
    „Schont die Kinder“, keuchte er. Er keuchte es mehr zu sich selbst. „Schont sie. Sie haben nichts falsch gemacht. Ich bin es, der alles falsch gemacht hat. Tötet mich, aber schont die Kinder.“
    Er spürte Blankas kleine Hände, die ihn fast erwürgten. Er spürte Johannes, der trotz der Schmerzen versuchte, sich steif zu machen, damit Rainald ihn leichter tragen konnte. Er starrte zur Stadtmauer hinauf, noch sechzig, noch fünfzig Schritt entfernt, starrte in die Augen des Mannes, der ihn einst willkommen geheißen und dem er allen Schaden zugefügt hatte, den er nur konnte. Dielsdorfer grinste. Er nickte ihm zu.
    Die Bogenschützen feuerten.

***

    Rainald sah die Pfeile heranfliegen . Einen gähnenden Moment lang hingen sie in der Luft, scheinbar bewegungslos. Er war es, der auf sie zuzurasen schien. Seine Beine hatten den Bodenkontakt verloren, die Kinder auf seinen Armen wogen nichts mehr. Nur noch ein einziges Geräusch war hörbar: Sommerwind, der durch die Baumwipfel strich. Er spürte die warme Brise auf der Stirn. So war es also, wenn man starb. Er hatte es sich schlimmer vorgestellt. Er hörte die Pfeile einschlagen, aber er spürte keinen Schmerz.

***

    Der Wolf an Rainalds Seite jaulte auf und überschlug sich. Von seiner anderen Seite war das gleiche, abrupte Japsen zu hören und das Knirschen, mit dem sich ein Körper in den Schnee bohrte. Rainald hörte die Pfeile an sich vorbeisirren. Plötzlich spürte er den Boden wieder. Das Gewicht der
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