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Der Hintermann

Der Hintermann

Titel: Der Hintermann
Autoren: Daniel Silva
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Sozialhaushalte standen viele Staaten des alten Kontinents finanziell am Abgrund. Ihre Verschuldung erreichte schwindelnde Höhen, die Reserven waren aufgezehrt, und ihre verwöhnte Bevölkerung war überaltert und desillusioniert. Sparsamkeit war das Gebot der Stunde. Im gegenwärtigen Klima gab es keine heiligen Kühe mehr, an die sich niemand heranwagte: der Gesundheitsetat, Bildungsausgaben, Subventionen für Kunst und Kultur, sogar Rentenansprüche wurden alle drastisch gekürzt. Unter den sogenannten Randstaaten Europas brach eine Volkswirtschaft nach der anderen zusammen. Griechenland versank langsam in der Ägäis, Spanien hing am Tropf von IWF und EZB, und das irische Wirtschaftswunder hatte sich als Luftblase erwiesen. In den smarten Brüsseler Salons schreckten viele Eurokraten nicht davor zurück, etwas laut auszusprechen, das einst undenkbar gewesen war – dass der Traum von der Integration Europas im Sterben lag. Und in depressiven Anwandlungen fragten manche von ihnen sich sogar, ob Europa, wie sie es kannten, vielleicht ebenfalls im Sterben liege.
    Ein weiterer Glaubensartikel lag in diesem November in Scherben: die Überzeugung, Europa könne einen endlosen Strom von muslimischen Einwanderern aus seinen früheren Kolonien aufnehmen und trotzdem seine Kultur und Lebensweise unverändert bewahren. Was als zeitlich befristetes Programm zur Behebung des Arbeitermangels nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen hatte, hatte inzwischen das Antlitz eines ganzen Erdteils auf Dauer verändert. Unruhige muslimische Vororte umgaben fast jede Großstadt, und in einigen Staaten würde es voraussichtlich noch vor der Jahrhundertwende eine muslimische Mehrheit geben. Keiner der Machthabenden hatte sich die Mühe gemacht, die einheimische Bevölkerung zu fragen, bevor die Tore weit geöffnet wurden, und jetzt – nach langen Jahren relativer Passivität – begannen die Einheimischen sich zu wehren. Dänemark hatte die Bestimmungen für Eheschließungen und Familiennachzug von Immigranten drastisch verschärft. Frankreich hatte das Tragen der Burka in der Öffentlichkeit verboten. Und die Schweizer, die sich kaum untereinander vertrugen, hatten beschlossen, sie wollten ihre ordentlichen Groß- und Kleinstädte von Minaretten freihalten. Britische und deutsche Spitzenpolitiker hatten Multikulti, das im postchristlichen Europa buchstäblich zu einer Ersatzreligion geworden war, für tot erklärt. Die Mehrheit werde sich nicht länger dem Willen der Minderheit beugen, erklärten sie. Und sie werde über den in ihrer Mitte blühenden Extremismus nicht länger hinwegsehen. Europas alter Zwist mit dem Islam schien in eine neue und potenziell gefährliche Phase eingetreten zu sein. Es gab viele, die befürchteten, das könnte ein ungleicher Kampf werden. Die eine Seite war alt, müde und überwiegend mit sich selbst zufrieden. Die andere konnte sich von einer Karikatur in einer dänischen Zeitung zu mörderischer Wut aufstacheln lassen.
    Nirgends waren die Probleme, vor denen Europa stand, deutlicher sichtbar als in Clichy-sous-Bois, einer von Arabern bewohnten unruhigen Banlieue gleich außerhalb von Paris. Diese Vorstadt, in der schon 2005 die tödlichen Unruhen ausgebrochen waren, hatte mit die höchste Arbeitslosenquote des Landes und führte auch die Kriminalstatistik mit an. Clichy-sous-Bois war so gefährlich, dass nicht einmal die französische Polizei sich in die von Menschen wimmelnden Wohnsiedlungen wagte – auch nicht in die, in der Nasim Kadir, ein 26-jähriger Algerier, der in dem berühmten Restaurant Fouquet’s arbeitete, mit zwölf weiteren Mitgliedern seiner Großfamilie lebte.
    An diesem Novembermorgen verließ er die Wohnung noch bei Dunkelheit, um sich in einer Moschee zu reinigen, die mit saudischem Geld erbaut worden war und einen in Saudi-Arabien ausgebildeten Imam hatte, der kein Französisch sprach. Nach diesem wichtigen islamischen Ritual fuhr er mit dem Bus 601A in den Vorort Le Raincy, wo er einen RER-Zug bestieg, der ihn zum Gare Saint-Lazare brachte. Auf dem Bahnhof stieg er zur letzten Etappe seiner Fahrt in die Pariser Metro um. Unterwegs erweckte er weder bei Kontrollpersonal noch Mitreisenden den geringsten Verdacht. Seine dicke Daunenjacke verbarg die Tatsache, dass er eine Sprengstoffweste trug.
    Um 11.40   Uhr, zur gewohnten Zeit, kam er aus der Metro-Station George V. und ging die Champs-Élysées entlang weiter. Zeugen, die das Glück hatten, das Inferno zu überleben, würden später
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