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Der Herzausreißer

Der Herzausreißer

Titel: Der Herzausreißer
Autoren: Boris Vian
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andere Brust.

9
    Der Garten klammerte sich teilweise an den Steilhang; Pflanzen unterschiedlichster Gattung wuchsen auf den abschüssigen, nur mit Mühe zugänglichen, und folglich naturbelassenen Geländepartien. Da gab es die Calaïos, deren Blattwerk auf der Unterseite eine blau-violette, auf der Oberseite hingegen eine zartgrüne, von weißen Rippen durchäderte Färbung aufweist; sodann wilde Ormaden mit monströsen knotenartigen Verdickungen an den fadenförmigen Dünnstengeln, welche in Blüten übergingen, die wie blutige Meringel aussahen; Büschel perlengrau schimmernder Rêviolen; die länglichen Trauben der milchhaltigen Garillien, die sich an den untersten Zweigen der Araukarien festkrallten; Sirten, blaue Mayangen, verschiedene Unterarten der Bachbunge, die als dichter grüner Teppich kleinen lebendigen Fröschen Unterschlupf gewährten; Kormarinhecken, Cannaïs, Sensiären, tausend aufdringliche und bescheidene Blumen, die aus Felslöchern herauswucherten oder wie Vorhänge an den Gartenmauern entlang herunterhingen, nach der Sonne hinkriechend wie die Algen, von überall hervorberstend oder unauffällig sich um die eisernen Gitterstäbe ringelnd. Der waagrecht liegende Garten war weiter oben in üppige und frische, von Kieswegen durchschnittene Rasenbänke aufgeteilt. Vielerlei Bäume sprengten mit ihren zerklüfteten Wurzelstöcken das Erdreich.
    Dorthin waren Angel und Jacquemort gegangen, um etwas zu promenieren, abgeschlafft wie sie waren nach der um die Ohren geschlagenen Nacht. Die frische Seeluft überflutete kristallen die ganze Küste. An Stelle der Sonne stand oben eine kümmerlich fahle viereckige Flamme.
    »Sie haben einen schönen Garten«, sagte Jacquemort, ohne nach besseren Worten zu suchen. »Leben Sie schon lange hier?«
    »Ja«, sagte Angel. »Seit zwei Jahren. Ich hatte Bewusstseinsstörungen. Mir sind damals allerhand Sachen schiefgelaufen.«
    »Ganz hautnah ist es zwar nicht gegangen«, sagte Jacquemort, »doch ausgestanden ist das Ganze beileibe noch nicht.«
    »Das ist wahr«, sagte Angel, »aber ich habe länger als Sie dazu gebraucht, das herauszufinden.«
    Jacquemort schüttelte den Kopf.
    »Die Leute sagen mir alles«, bemerkte er. »Am Ende weiß ich dann, was in ihnen steckt. Übrigens, da fällt mir ein ... könnten Sie mir irgendwelche Subjekte zum Psychoanalysieren verschaffen?«
    »Davon gibt es jede Menge«, sagte Angel. »Das Kindermädchen können Sie haben, wann immer Sie wollen. Und die Leute aus dem Dorf werden sich auch nicht weigern. Sie sind etwas grobschlächtige Geschöpfe, aber durchaus interessant und ergiebig.«
    Jacquemort rieb sich die Hände.
    »Ich werde sie haufenweise benötigen«, sagte er. »Ich habe einen starken Verschleiß an Gemütern.«
    »Wie kommt das?«, fragte Angel.
    »Dazu muß ich Ihnen erklären, weshalb ich hierher gekommen bin«, sagte Jacquemort. »Ich war auf der Suche nach einem stillen Plätzchen für ein Experiment. Also: Stellen Sie sich meine Wenigkeit als eine leere, unausgelastete Kapazität vor.«
    »Ein Fass etwa?«, meinte Angel. »Haben Sie früher getrunken?«
    »Nein«, sagte Jacquemort. »Ich bin leer. Ich verfüge nur über Gesten, Reflexe, Gewohnheiten. Ich möchte mich füllen. Das ist ja der Grund, weshalb ich Leute psychoanalysiere. Aber mein Fass ist ein Danaidenfass. Ich nehme nichts auf. Ich nehme den Leuten ihre Gedanken, ihre Komplexe, ihre kleinlichen Verzagtheiten weg, und es bleibt mir dann doch nichts davon übrig. Ich assimiliere nicht; oder vielleicht assimiliere ich viel zu gut ... das ist im Grunde dasselbe. Wohlgemerkt, ich behalte natürlich Wörter, Worthülsen, Etiketten; ich kenne die Fachausdrücke, unter welche man die Leidenschaften, die Gefühle einordnet, aber ich empfinde dieselben nicht.«
    »Ja und, dieses Experiment«, warf Angel ein, »haben Sie trotzdem den Wunsch, es durchzuführen?«
    »Aber selbstverständlich«, erwiderte Jacquemort. »Ich habe richtiggehendes Verlangen nach diesem Experiment. Von welchem Experiment sprach ich gerade? Ach ja. Ich möchte gerne eine integrale Psychoanalyse machen. Ich bin ein Erleuchteter.«
    Angel zuckte die Achseln.
    »Ist das jemals schon gemacht worden?«, fragte er.
    »Nein«, sagte Jacquemort. »Derjenige, den ich so psychoanalysiere, der muß mir alles sagen. Alles. Seine intimsten Gedanken. Seine herzinnersten Geheimnisse, seine verstecktesten Ideen, all das, was er sich selbst nicht einzugestehen traut, alles, alles und was dann noch
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